Er sah niemals einen Skorpion

Man kann ja im Allgemeinen nur wenig über den Autor (oder die Autoren) des Voynich-Manuskriptes sagen, aber ich denke, dass mindestens eine der beiden folgenden Aussagen gesichertist:

  • Entweder wusste der Autor nicht, wie ein Skorpion aussieht
  • oder aber, er verwendete völlig andere Tierkreiszeichen.

Und ich tendiere stark dazu, die erste dieser Aussagen für wahr zu halten, da sie weniger zusätzliche Annahmen erfordert.

Gewiss, der Autor des Manuskriptes war kein großer Künstler, aber dass das folgende Bild des Tierkreises (an der erwarteten Position des Scorpio) auf Seite f73r

Skorpion auf Seite f73r

…keinen Skorpion darstellen kann, ist wohl deutlich genug. Wer einen Skorpion so zeichnet, belegt damit, dass er noch niemals einen Skorpion gesehen hat. Die Darstellung des Schützen auf Seite f73v zeigt hingegen recht klar, dass der Zeichner zwar nicht gerade ein Künstler war, aber doch wenigstens einen ihm vertrauten Anblick so darstellen konnte, dass der Inhalt des Bildes für einen Betrachter erfassbar ist:

Schütze

Selbst die Tatsache, dass der Schütze eine Armbrust (oder eine sehr ähnliche Waffe) trägt, ist trotz des flüchtigen Stiles der Zeichnung klar zu erkennen. Wenn man diese Zeichnung sieht, weiß man, dass der Zeichner wohl Schützen mit derartigen Waffen gesehen haben muss, und dass er sie trefflich zu skizzieren verstand.

Und damit weiß man auch, dass der »Skorpion« entweder

  • keinen Skorpion darstellen soll, oder aber
  • die Zeichnung eines Skorpiones durch einen Menschen ist, der noch nie einen Skorpion gesehen hat und sich das Bild aus Erzählungen zurechtreimen musste. Was dabei entstand, erinnert mehr an einen Hund mit ungewöhnlich langer Rute.

Für die Möglichkeit, dass der Tierkreis nichts mit der uns vertrauten Astrologie zu tun haben könnte, verweise ich auf Jonathan Dilas.

Geht man aber davon aus, dass der Tierkreis aus den vertrauten europäischen Symbolen besteht, so kann man feststellen, dass dem Zeichner der Anblick eines Skorpions nicht vertraut war. Das schränkt immerhin die Anzahl der möglichen Länder, in denen der Autor gelebt haben könnte, ein wenig ein – leider nicht so, dass es auch nur ein bisschen hülfe. 😉

Abschließende Anmerkung: Die unter den Symbolen des Tierkreises sichtbaren Monatsnamen in lateinischen Buchstaben – in den Zeichnungen kann man »novembre« und (mit etwas weniger Sicherheit) »decebre« erkennen – sind ein ganzes Thema für sich. Vermutlich stammen sie nicht vom Autor, sondern wurden nachträglich hinzugefügt. Obwohl hier der Inhalt erfreulich klar ist, erweist es sich als sehr schwierig, die Sprache zu identifizieren.

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Datum: Montag, 25. Mai 2009 2:51
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Ein Kommentar

  1. Benjamin Aurelius
    Donnerstag, 5. Mai 2011 18:31
    1

    Die Darstellungen verwirren den modernen Betrachter, der die Tierkreiszeichen aus dem Horoskop kennt (behufter Schütze, geschuppter Wassermann..). Die Ikonografie der Bilder entspricht jedoch denen europäischen Ursprungs (bis ca. 1450) in einer Weise, dass man davon ausgehen muss, dass der Zeichner/Autor Zugriff auf entsprechende Vorbilder der Literatur besaß.
    Wenn Du Zugriff auf die Staatsbibliothek hast, kannst Du dich davon überzeugen. Erfreulicherweise dient auch Wikipedia in diesem Fall mit einigem Bildmaterial.

    http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f7/Faltkalender_mit_Monatsbildern.jpg

    Man achte auch auf das gespaltene Maul des Löwen, sowie der Zuordnung der Tierkreise an Monate (die im VM um einen Monat versetzt sind – Wassermann und Steinbock fehlen und müssen zu den verlorenen Seiten gerechnet werden).

    Auch interessant diese Skorpionsdarstellung:

    http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/57/Scorpio2.jpg

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