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Der große Frust

Sonntag, 1. März 2009 0:51

Es ist nicht leicht möglich, sich rationell dem Anomalen zu nähern. Wenn sich ein Mensch einer Erscheinung gedanklich annähert, denn tut er dies in der Regel, indem er Muster darin sucht, um aus diesen Mustern eine Einsicht in die Beschaffenheit des Gegenstandes zu erhalten. Im Idealfall bekommt ein Mensch während dieses Unterfangens nach und nach aus seinen Irrtümern und weiter führenden Hypothesen das Gefühl, einen »festen Boden« unter den Füßen zu bekommen, und von dort ausgehend geht es dann voran, bis im Idealfall eine Einsicht zustande kommt.

Nehmen wir einmal ein Beispiel aus meinem Leben.

In der Mitte des Jahres 2000 stellte ich auf digitalen Fotografien im Internet und später auch auf solchen eines Freundes gelegentlich etwas fest, was wie schwach glimmende Kügelchen mit einer undeutlichen, inneren Struktur aussah. Natürlich durchsuchte ich daraufhin erst einmal das Internet, um eine Aufklärung zu finden. Dort fand ich nach kurzer Zeit Einiges zum Thema. Ich »lernte«, dass diese Leuchterscheinungen »Orbs« genannt wurden, und ich »lernte«, dass viele Menschen der Meinung waren, es handele sich hier um ein paranormales Phänomen. Angesichts der großen Anzahl solcher Bilder konnte ich die paranormale Hypothese nicht glauben, zumal die »Orbs« neben ihrer Fähigkeit, auf Fotos aufzuscheinen, keinerlei reproduzierbare Wechselwirkung mit der Umwelt zeigten. (Die immer wieder behauptete »Wahrnehmung« der »Orbs« durch Haustiere erwies sich bei erster Durchsicht des Bildmateriales als Haufen interpretierter Zufälligkeiten, es gab außerordentlich viele Bilder, auf denen die Hunde und Katzen mit offensichtlicher Gleichgültigkeit auf die »Orbs« reagierten.)

Aber es hatte mich gepackt, und so wollte ich erfahren, was es mit den »Orbs« wirklich auf sich hat. Sie tauchten ja auch auf Fotos eines Freundes auf, und ich setzte mich mit einer Mail mit diesem Freund in Kontakt, verwies auf ein im Internet veröffentlichtes Bild von ihm und fragte ihn, welchen Reim er sich auf die fahle Leuchterscheinung machen könnte. Er war zunächst genau so ratlos wie ich, hatte so etwas öfter einmal gesehen, aber deshalb die Fotos eher als »unbrauchbar« aussortiert. Zum Glück hatte er seine Fotos archiviert, und ich bat ihn, einmal einen flüchtigen Blick in sein Archiv zu tun, damit wir vielleicht Genaueres über diese »Erscheinungen« erfahren – dabei habe ich die »paranormale Hypothese«, die ich auf englischsprachigen Websites kennen lernte, bewusst nicht erwähnt.

Mein Freund nahm sich tatsächlich zwei Stunden Zeit für diese kleine Frage, und am Ende standen folgende Einsichten:

  • Er fotografierte damals sowohl digital (für das Internet) als auch auf klassischem Filmmaterial, aber alle »Orbs« sah er nur auf digitalen Fotos.
  • Die meisten »Orbs« wurden dann sichtbar, wenn Fotos aus Kneipen, Distotheken oder ähnlichen Etablissments im Betrieb geschossen wurden – dies machte er vor allem für die Internet-Arbeit.

Das war ja schon einmal ein Muster. Im nachfolgenden Mailverkehr kamen wir auf die Idee, einmal die EXIF-Daten in den Digitalfotos mit »Orbs« zu betrachten, um vielleicht einen weiteren Hinweis auf die Natur dieser Erscheinung zu bekommen.

Dabei stellte er fest, dass alle »Orbs« in seinen Fotos auf Blitzlichtaufnahmen erschienen, und zwar vor allem unter ungünstigen Lichtbedingungen.

Wir bildeten die Hypothese, dass es sich um defokussierte Staubteilchen handeln könnte, die vom Blitzlicht angeschienen werden. Die scheinbare Ausdehnung dieser »Orbs« wäre dann ein Effekt der Unschärfe. Mit dieser Hypothese war es meinem Freund sofort möglich, ein paar typische »Orb«-Fotos zu reproduzieren, indem er seine Kamera im Halbdunkel vor einer staubigen Matratze platzierte, auf die er vorm Auslösen einige Male mit seiner Hand schlug. Jetzt erst machte ich meinen Freund auf die teils recht esoterischen Deutungen des Phänomens aufmerksam, und wir lernten beide eine Menge darüber, wie sich Menschen eine unverstandene Erscheinung zurechtinterpretieren konnten.

So eine schnelle Einsicht ist ein Idealfall. Es war nicht viel »Forschung« erforderlich, um die Muster in der Erscheinung zu erkennen und um auf diesem Wege eine befriedigende Erklärung zu bekommen. Viel mehr fanden wir es beide erstaunlich, mit wie großem Ernst Menschen teilweise absurde Thesen vertreten, ohne auch nur einen Moment lang über mögliche andere Erklärungen nachzudenken. Die schiere Menge der »Orb«-Fotos hätte jeden darauf bringen können, dass es sich um etwas sehr alltägliches handeln musste.

(Später machte mein Freund auch »Orb«-Fotos bei Nieselregen, hier sind es allerdings feine Wassertröpfchen, die als »Orbs« erscheinen. Das Resultat ist sehr ähnlich. Wenn wir das wollten, könnten wir die Leichtgläubigkeit vieler Menschen ausnutzen, indem wir auf Bestellung »paranormale« Fotos anfertigen, aber diese Art »Geschäft« verachten wir.)

So weit eine kleine Erfolgsgeschichte.

Beim Voynich-Manuskript kann ich nicht einmal eine kleine Erfolgsgeschichte berichten. Der große Erfolg, ein endlich gelesenes und verstandenes Manuskript, liegt in noch größerer Ferne.

Denn das Voynich-Manuskript ist anomal. Es bleibt anomal, gleich, auf welcher Ebene es betrachtet wird. Das erschwert jede Beschäftigung mit dem »verdammten Manuskript«.

Das verwendete Schriftsystem ist einzigartig und nirgends anders belegt. Es hat dabei aber Ähnlichkeiten zu üblichen lateinischen Schriften und gängigen Abkürzungen des spätmittelalterlichen Europas.

Der »Text« weist zwar verheißungsvolle und sehr deutliche Regelmäßigkeiten in der Wortbildung auf, aber ein großer Anteil des Textkörpers weicht von diesen Regeln ab. Diese Abweichungen verteilen sich völlig unregelmäßig im Manuskript, nur das erste Wort einer pflanzenkundlichen Seite ist beinahe immer unregelmäßig gebildet.

Die innere Struktur der regelmäßig gebildeten »Wörter« erinnert an natürliche Sprachen, passt aber zu keiner Sprache, die im europäischen Raum Spuren hinterlassen hat.

Die Illustrationen scheinen reine Fantasiegebilde zu sein, sie lassen sich nicht biologischen, astronomischen, astrologischen oder esoterischen Erscheinungen außerhalb des Manuskriptes zuordnen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht gelegentlich starke Ähnlichkeiten zu wirklichen Erscheinungen hätten.

Nach einigen Jahren mit dem »verdammten Manuskript« habe ich zumindest eines gelernt: Wann immer ich nach einem erkannten Muster greife – wie etwa den »harmonischen Regeln« für die Glyphenfolge – führt dieser Weg in eine Sackgasse. Die Regelmäßigkeit des Manuskriptes ist vorhanden, und sie deutet an, dass sich Bedeutung in ihr verbirgt, dass es sich nicht um eine zufällige Folge von Glyphen handelt. Aber die Ausnahmen von diesen Regeln verteilen sich völlig willkürlich über das Manuskript und machen jeden Versuch zunichte, weitere Einsichten zu gewinnen.

Es ist frustrierend.

Und dieser Frust greift nicht nur nach mir, sondern nach jedem Menschen, der sich mit dem Voynich-Manuskript beschäftigt. Seit etlichen Jahrzehnten beschäftigen sich Menschen von hohem akademischen Bildungsgrad, Spezialisten aller Art sowie diverse wissenschaftliche Laien wie ich mit diesem Buch, ohne dass auch nur die Spur einer Einsicht in die Bedeutung des Textes entstanden ist. Was uns allen bleibt, ist der begründete Glaube, dass der Text wohl wenigstens für seinen Schreiber eine Bedeutung gehabt haben wird – und auch der begründetste Glaube kann nicht eine rationelle, belegbare, zu Ergebnissen führende Einsicht ersetzen.

Anfangs, als ich das Problem unterschätzte, war ich noch etwas motivierter. Die flüchtige Schrift, die nicht nach einem schweren Rätsel aussah, hatte mich in den Bann gezogen, hatte mir durch die Jahrhunderte zugeflüstert, dass sie leicht zu schreiben gewesen sei, gar nicht nach einem Code aussieht und dass sie deshalb wohl auch leicht zu lesen sein würde.

Selbst darin widerspricht sich dieses Manuskript selbst.

Und manchmal halte ich das für die eigentliche Botschaft. Manchmal glaube ich, dass ich ein großartiges Kunstwerk vor mir sehe – nicht das »sinnlose Geschwafel«, das einige Forscher gern im Voynich-Manuskript sehen würden, sondern ein aufwändig und sehr genau und überlegt geschaffenes Werk, das mit allen Aspekten der menschlichen Wahrnehmung spielt, um ihr die Grenzen aufzuzeigen. Denn das erklärt für mich noch am besten, was im Voynich-Manuskript vor mir liegt.

Und dann verfolge ich doch wieder eine neue Idee, um mich schon nach kurzer Zeit in der inzwischen sehr vertrauten Sackgasse wiederzufinden…

So gut ist dieses Kunstwerk. 😉

Thema: Interpretation, Kunst | Kommentare (1) | Autor:

Die Harmonie der Glyphenfolgen

Samstag, 5. Juli 2008 0:21

Dieser Text ist »etwas« älter, ich hatte ihn am 15. Februar 2005 auf einer inzwischen nicht mehr verfügbaren Homepage veröffentlicht. Die geäußerten Gedanken erscheinen mir aber immer noch als wertvoll und wichtig, deshalb diese erneute Veröffentlichung.

Unabhängig von den Feinstrukturen der »Wörter« im Voynich-Manuskript lassen sich harmonische Regeln für die Folge der Glyphen in einem »Wort« feststellen. Diese Regeln sind verhältnismäßig einfach, wurden aber vom Autor im gesamten Manuskript angewandt. Beim Betrachten dieser Regeln kommen Zweifel daran auf, dass es sich beim Voynich-Manuskript um niedergeschriebene Sprache im gewöhnlichen Sinn des Wortes handeln kann.

Die Glyphenklassen im Voynich-ManuskriptIch werde mich für die folgenden Darlegungen des Transkriptions-Systemes EVA bedienen, die »Wörter«, Glyphen und Glyphfolgen werden zur leichteren Erkennung in fetter Schrift gesetzt. Für Wortzählungen habe ich die vollständige Transkription von Takeshi Takahashi verwendet.

Jemand, der sich längere Zeit mit dem Voynich-Manuskript beschäftigt, bekommt eine gewisse Intuition dafür, dass die Reihenfolge der Glyphen in einem Wort sehr festen Regeln folgt. Es kann nicht jede Glyphe an jeder Position stehen – bestimmte Glyphfolgen wirken auf der Stelle »falsch«.

Zunächst fällt ein erkennbares System von Präfixen und Suffixen auf. Das typische »Wort« im Manuskript beginnt mit q-, qo- oder o- und endet mit Glyphenfolgen aus einer recht großen Auswahl, in welcher die Gruppen -in, -ir, -il, -es und -dy besonders auffällig hervorstechen. Diese offensichtlichen Strukturmerkmale führten des öfteren zur Annahme, dass es sich hierbei um durchschimmernde Spuren einer Grammatik mit Flexionsystem handeln müsse – allerdings hat diese Annahme noch nicht bei der Identifikation der Sprache geholfen.

Ich möchte diesen vielbetrachteten Aspekt einmal außer Acht lassen und auf die zeichnerische Harmonie der Glyphfolgen eingehen.

Nach einigen Monaten des ernsthaften Forschens wird jedem Menschen intuitiv klar, dass es sich bei der Glyphenfolge qoteody um ein mögliches »Wort« handelt. Dieses »Wort« erscheint dann auch zwölf Mal im Manuskript – es ist damit eines der nicht besonders häufigen Worte, so dass diese »Klarheit« nicht (wie etwa beim sehr häufigen qoteedy) aus der Erinnerung kommen kann. Ebenso ist intuitiv klar, dass die Glyphenfolge qoteidy, die ja transkribiert auf dem ersten Blick sehr ähnlich aussieht, ein sehr ungewöhnliches »Wort« wäre. Und tatsächlich, dieses »Wort« kommt im Manuskript nicht vor.

Aber was unterscheidet diese Glyphenfolgen? Welches Bildungsgesetz für die »Wörter« nimmt man hier intuitiv auf, so dass man oft recht zielsicher entscheiden kann, ob ein bestimmtes »Wort« möglich ist oder nicht?

Die Beantwortung dieser Frage führt auf ein Harmoniegesetz für die aufeinanderfolgenden Glyphen, welches auch das beobachtete Suffixsystem auf natürliche Weise hervorbringt. Doch um dieses zu erkennen, muss man sich von den Transkriptionen abwenden und dem Schriftbild des Manuskriptes zuwenden. Zur besseren Erläuterung habe ich eine Grafik mit den hier postulierten Glyphenklassen und ein paar Beispielen in diese Seite eingefügt und die Glyphen der EVA-Transkription gegenübergestellt.

Die grundlegenden Glyphenklassen

Wenn man die Glyphen in den Bildern des Manuskriptes sorgfältig untersucht, stellt man schnell fest, dass der Glyphenvorrat relativ einfach aufgebaut ist. Es lassen sich drei Klassen von Glyphen an Hand ihres ersten Striches unterscheiden, dem zur Differenzierung in die speziellen Glyphen verschiedenste Dekorationen hinzugefügt werden können. Diese Reihenfolge beim Zeichnen der Glyphen lässt sich an vielen Stellen des Manuskriptes bestätigen, da durch das Absetzen der Feder Lücken in der Glyphe entstehen und häufig nach dem Absetzen die Feder in die Tinte getaucht wurde, so dass der folgende Strich dunkler erscheint.

Neben diesen drei Klassen gibt es noch zwei wichtige Ausnahmezeichen – leider kümmert sich die Wirklichkeit nicht immer um das analytische Streben nach Vereinfachung. Schon jetzt sei gesagt, dass eine dieser Ausnahmen für die »Wortbildung« im Rahmen der beobachteten Harmoniegesetze von Bedeutung ist.

Die nur an vereinzelten Stellen auftretenden »weirdos« werden hier nicht behandelt, fügen sich jedoch manchmal gut in das System ein. Manchmal allerdings auch nicht.

Die i-Klasse: Der erste Strich aller Glyphen dieser Klasse ist ein kurzer Abwärtsstrich, der um etwa 30 Grad gegen die Vertikale nach links geneigt ist. Beim EVA-Zeichen i wird die Glyphe nur von diesem Strich gebildet, darüber hinaus gibt es die wichtigen Glyphen n, r, l und m, die mit diesem Strich beginnen und ihm eine Verzierung hinzufügen.

Die e-Klasse: Der erste Strich dieser Klasse ist ein ungefähr halbkreisförmiger Bogen, dessen Anfang ähnlich geneigt ist wie der Abwärtsstrich der i-Klasse. Bei den EVA-Zeichen e, c und h wird die Glyphe nur von diesem Stich gebildet, darüber hinaus gibt es in dieser Klasse die wichtigen Glyphen o, d, s, y und die wegen ihrer Seltenheit als »weirdos« zu betrachtenden g und b.

Die Gallows: Der erste Strich dieser Klasse ist ein deutlich über der Scheiblinie angesetzter, strikt vertikaler Abwärtsstrich, dem immer eine weitere Dekoration hinzugefügt wird. Der Strich tritt also niemals allein als Glyphe auf. In diese Klasse gehören die EVA-Zeichen k, t, f und p, ferner sind einige der »weirdos« auf diese Art gebildet.

Die Ausnahmeglyphen

Wie schon erwähnt, gibt es genau zwei Glyphen, die aus diesem einfachen Schema der drei Klassen herausfallen. Beide scheinen wichtige Funktionen im Manuskript zu erfüllen, und eine dieser Ausnahmen (das a) ist entscheidend für die Aufrechterhaltung des später beschriebenen Harmoniegesetzes.

Die q-Glyphe: Diese Glyphe tritt nur am Anfang eines »Wortes« auf. Sie besteht aus einem strikt vertikalen Abwärtsstrich, der aber im Gegensatz zu den Glyphen der Gallow-Klasse auf Höhe der Schreiblinie angesetzt wird und diese Linie nach unten hin deutlich durchbricht. Am oberen Ende dieses Striches wird eine nach links gewandte gerade Linie im Winkel von ungefähr 45 Grad angesetzt, diese wird bis zur Mitte des Schreiblinienbereiches fortgesetzt und dort horizontal, aber leicht nach oben weisend abgeknickt. Die sehr häufig folgende Glyphe o wird mit diesem Horizontalstrich verbunden, so dass in diesem Fall der Eindruck einer Ligatur entsteht.

Die a-Glyphe: Diese Glyphe entsteht aus der Kombination (oder Ligatur) des Bogens der e-Klasse mit dem Abwärtsstrich der i-Klasse. Ihre besondere Bedeutung für die Harmoniegesetze wird an späterer Stelle klar werden.

Die Ligaturen

Es gibt einige sehr bemerkenswerte Glyphenfolgen, die einen starken Eindruck von Ligaturen erwecken und deshalb an dieser Stelle (mit allen Vorbehalten wegen des unbekannten Schriftsystemes) auch so genannt werden, die sich aber fast alle mit einer (relativ seltenen, aber sehr wichtigen) Ausnahme zwanglos in das System einfügen. Die häufigsten Formen seien hier kurz aufgelistet – es gibt aber darüber hinaus vereinzelt sehr komplexe Formen von drei oder mehr Glyphen sowie Ligaturen mit den Glyphen o und y.

Ligaturen der e-Klasse

Die folgenden Ligaturen fügen sich durch den ersten Strich zwanglos in die e-Klasse ein und werden im Folgenden auch so behandelt.

Die ch-Ligatur: Dies sind einfach zwei e-Glyphen, die am oberen Ansatzpunkt durch eine deutliche, strikt horizontale Linie verbunden sind.

Die sh-Ligatur: Sie entspricht der ch-Ligatur, enthält jedoch als zusätzliche Verzierung einen Bogen auf oder über der horizontalen Linie. Die Form dieses Bogens ist so variabel, dass immer wieder die Frage aufgeworfen wurde, ob sie nicht Information tragen könnte. Für die Betrachtung der »harmonischen Wortbildung« spielt diese Frage jedoch keine große Rolle.

Gemischte ie-Ligatur

Die ih-Ligatur: Dies ist die einzige Ligatur dieser Klasse und die zuvor benannte wichtige Ausnahme. Sie sieht der ch-Ligatur sehr ähnlich, aber das erste Zeichen ist der einfache Strich der i-Glyphe. Diese Ligatur tritt nur in dieser Reihenfolge auf, es gibt keine ci-Ligatur. Aus den späteren Darlegungen wird deutlich werden, dass eine hypothetische ci-Ligatur im Rahmen der Harmoniegesetze nicht erforderlich ist und daher wohl auch nicht auftritt.

Ligaturen mit eingebetteten Gallows

Die ch- und ih-Ligaturen (und die gelegentlichen ähnlich gebildeten Ligaturen mit o oder y) können ein eingebettetes Zeichen der Gallow-Klasse enthalten, welches die horizontale Linie kreuzt (cfh, cph, ckh, cth, ifh, iph, ikh und ith). Diese Kombination sieht dann so aus, als würde die Gallow-Glyphe auf einer Art von Podest stehen. Das Auftreten dieser Ligaturen ist sehr rätselhaft und einer umfassenden Betrachtung in einem eigenen Text würdig.

Und damit ist auch alles erklärt, was zum Verständnis der Harmoniegesetze erforderlich ist. Wer sich von den ausführlichen Erläuterungen zu den Zeichenklassen etwas »erschlagen« fühlt, sollte noch einmal einen Blick auf meine kleine Grafik werfen – manchmal sagt ein Bild wirklich mehr als tausend Worte. Alles in allem sollten die Kriterien für die Zuordnung einer Glyphe zu einer Klasse und die Bewertung einer Ligatur jetzt so klar sein, dass sie von jedem Leser verstanden und in einer Analyse angewendet werden können. Dabei ist auch für die meisten (aber natürlich nicht für alle) »weirdos« eine eindeutige Zuordnung zu einer dieser Klassen möglich. Für die wichtigsten Weirdos sei dies hier vorweggenommen:

»Weirdos« der i-Klasse: sind j und eventuell auch z, dessen Glyphe durch den strikt horizontalen ersten Strich zwischen den Gallows und der i-Klasse steht und den starken Eindruck eines zu klein geratenen k macht.

»Weirdos« der e-Klasse: sind b und eventuell u, dessen Glyphe allerdings zusammen mit der a-Glyphe eine Klasse bilden müsste, wenn sie häufiger wäre. Der Eindruck der Glyphe ist der einer Ligatur aus e und n.

»Weirdos« ohne mögliche Zuordnung: sind v und x – in beiden Fällen ist der »normale« Aufbau der Glyphen verlassen worden, die Zeichen scheinen aus einem völlig anderem Zusammenhang in dieses Manuskript geraten zu sein.

Die sieben Harmoniegesetze

Jetzt sind endlich alle Definitionen vorhanden, um die sieben Harmoniegesetze für die Glyphenfolge im Voynich-Manuskript zu postulieren. Verglichen mit den Erläuterungen im Vorfelde sind sie sehr einfach und kurz, die Reihenfolge spiegelt die Wichtigkeit der Gesetze (also den Mangel an Ausnahmen) wider.

Erstes Harmoniegesetz: Die e-Folge – Auf eine Glyphe der e-Klasse folgt eine weitere Glyphe der e-Klasse, eine ch-Ligatur, ein Gallow oder eine a-Glyphe.

Zweites Harmoniegesetz: Die i-Folge – Auf eine i-Glyphe folgt eine weitere Glyphe der i-Klasse oder eine Ligatur der ih-Klasse.

Drittes Harmoniegesetz: Der i-Abschluss – Eine Glyhpe der i-Klasse, die keine i- oder l-Glype ist, beendet in der Regel ein »Wort«.

Viertes Harmoniegesetz: Vermeidung »nackter« Abschlüsse – Ein »Wort« endet niemals mit einer »nackten« i- oder e-Glyphe, sondern immer mit einem komplexeren Zeichen aus diesen Glyphenklassen.

Fünftes Harmoniegesetz: Die l-Ausnahme – Die Glyphe l kann als Glyphe der e-Klasse verwendet werden, obwohl sie an sich eine Glype der i-Klasse ist.

Sechstes Harmoniegesetz: Der i-e-Wechsel – Wenn auf eine Glyphe der i-Klasse eine Ligatur der ih-Klasse folgt, wird das »Wort« mit Glyphen der e-Klasse fortgesetzt.

Siebentes Harmoniegesetz: Die e-Gallow Äquivalenz – Ein Gallow ist fast immer von Glyphen der e-Klasse umgeben oder in eine Ligatur der ih-Klasse eingebettet.

Als leicht verständliche Zusammenfassung dieser Harmoniegesetze, ohne komplizierte Formulierung ausgedrückt, können die folgenden Punkte gelten:

  • Auf i folgt i oder e in der Form ih.
  • Auf e folgt e oder i in der Form a.
  • l ist ein »Jokerzeichen«, das sowohl i als auch e sein kann.
  • Die Gallows gelten als e.

Es sind genau diese sehr einfachen und für einen Großteil des Textes angewandten Regeln, die das Schriftbild des Voynich-Manuskriptes so ästhetisch ansprechend wirken lassen. Jeder Verstoß gegen diese Regeln fällt sofort optisch als ein »unpassendes Zeichen« auf. Wer das nicht glauben kann, besorge sich den Zeichensatz »EVA Hand 1″, installiere ihn und lasse einen beliebigen Text mit diesem Zeichensatz darstellen – vom harmonischen Schriftbild des Voynich-Manuskriptes ist das Ergebnis weit entfernt.

Was hat das zu bedeuten?

Natürlich schreit dieses Ergebnis danach, interpretiert zu werden. Es kann sich auf keinen Fall um einen Zufall handeln, dass konsequent Regeln zum Aufrechterhalten eines harmonischen Schriftbildes angewandt wurden. Es ist sehr schwierig, eine Seite im pflanzenkundlichen Teil zu finden, in der mehr als zwei bis drei »Wörter« eine Ausnahme von diesen Regeln bilden. Die häufigste Ausnahme ist übrigens der Wechsel von i nach o und von o nach i — und ich vermute inzwischen regelmäßig einen Transkriptionsfehler oder eine übersehene »Wortgrenze«, wenn ich letzteres in einer Transkription sehe. Manchmal ist der kleine Strich, der a und o voneinander unterscheidet, fast unsichtbar, und manchmal ist die Erkennung des Zwischenraumes zwischen den »Wörtern« sehr schwierig.

Ich hätte diese sehr häufige Ausnahme durch eine achte Harmonieregel abdecken können. Aber es lag mir viel daran, das Paradigma »auf i folgt i, auf e folgt e und der Wechsel geschieht über a und ih« so deutlich wie nur möglich werden zu lassen. Mit einer Ausnahmenhäufigkeit im Bereich der 2 Prozent kann ich bei diesem Postulat gut leben – wird es doch andererseits so stark bestätigt.

Dennoch, eine »harmonische« Regel für das Schriftbild ist verwunderlich.

Der Schreiber des Voynich-Manuskriptes hat bemerkenswert wenig auf Layout geachtet, er hat in der Regel keine Linien für die »Schrift« vorgezeichnet und so ein recht unregelmäßiges Schriftbild in Kauf genommen. Da nimmt es Wunder, dass diese rigiden »Wortbildungsgesetze« für optische Harmonie im Schriftbild sorgen – das passt einfach nicht gut zusammen.

Dies ist eine leichte Bestätigung für den Verdacht, dass es sich beim vorliegenden Manuskript um eine Abschrift handelt. Die Aussicht, dass der Abschreiber vielleicht ein Manuskript kopierte, das er selbst nicht verstand und dabei gewiss Fehler machte, ist für alle Entzifferungsbemühungen ein Albtraum.

Haben wir es mit einem »Text« zu tun?

Wenn jemand am Voynich-Manuskript forscht und dieses große Rätsel lösen will, so geschieht dies unter der Voraussetzung, dass es einen »sinnvollen Klartext« gibt, der wiederhergestellt und gelesen werden will. Ob man annimmt, es handele sich um eine geistreich ersonnene Verschlüsselung oder eine verloren gegangene Schrift einer unbekannten Sprache, spielt in diesen Bemühungen keine Rolle.

Doch würde bei der Notation oder Verschlüsselung eines sprachlichen Textes ein derartiges, auf optische Harmonie optimiertes Schriftbild entstehen? Mir erscheint das etwas fragwürdig.

Ich will damit nicht sagen, dass im Manuskript keine sinnvolle Botschaft enthalten ist. Ich will nur sagen, dass man den Geist für die Möglichkeit offen halten sollte, dass diese Botschaft nicht unbedingt in der Form eines Textes im gewöhnlichen Sinne des Wortes vorliegen muss – also als Folge von phonetischen Zeichen und Wörtern, die eine Sprache abbilden, so etwas, wie jetzt bei Ihnen gerade im Browser sichtbar ist.

Deshalb meine schnelle Hypothese einer sinnvollen Notation, die kein Text ist – und bei der die harmonischen Regeln sogar ein sinnvolles Feature wären: Das Manuskript könnte eine musikalische Notation einer Form von Musik sein, die nach relativ strengen Regeln komponiert wurde. Eine solche »Botschaft« ist vollkommen sinnvoll, und ihre Niederschrift ist (für Musizierende) sehr nützlich. Nur mit dem »Lesen« wird es natürlich nichts, vielleicht sollte man es einmal mit Singen ausprobieren.

Viele rätselhafte Eigenarten würden auf Grund dieser einfachen Idee erklärlich.

  • Die deutlichen Strukturen, welche die Zeile des Manuskriptes als eine »Bedeutungseinheit« kennzeichnen, könnten die Zeile als eine musikalische »Bedeutungseinheit«, etwa eine Phrase erklären.
  • Die starke Neigung des »Textes« zu Wiederholungen und leichten Abänderungen im nächsten »Wort« sind als musikalisches Stilmittel wirklich nicht ungewöhnlich. Ein kurzes Thema wird mehrfach, eventuell mit leichten Abwandlungen oder in einer anderen Tonhöhe wiederholt — ob im Kinderlied oder in einer komplexen Sinfonie.
  • Die besonderen statistischen Eigenschaften der ersten Zeile eines »Absatzes« oder einer Seite könnten Besonderheiten zum Anfang einer musikalischen Komposition oder eines deutlich abgegrenzten Teiles einer solchen widerspiegeln.
  • Die typischen Endungen der »Wörter« entsprechen bestimmten harmonischen musikalischen Wendungen oder bestimmten, für das Ende einer musikalischen Bedeutungseinheit typischen rhythmischen Mustern.
  • Das hohe Maß an Ordnung, welches den »Text« des Manuskriptes prägt, findet sich in jeder »wohlklingenden« Musik. Ebenso findet sich ein gewisses Maß an Überraschung und Unordnung darin – ansonsten wird die Musik als »langweilig« empfunden.
  • Die beiden »Currier-Sprachen« könnten den heutigen Tongeschlechtern Dur und Moll entsprechen – ich weiß allerdings nicht, ob sich diese zum Erstellungszeitpunkt des Manuskriptes bereits aus den mittelalterlichen Kirchentonarten als wichtige Tonleitern herausgebildet hatten.
  • Das Scheitern aller bisherigen Versuche, den »Klartext« des Manuskriptes unter der Annahme einer sprachlichen Information wiederherzustellen, ist völlig verständlich. Es hat seine Ursache in einer falschen Annahme über die Beschaffenheit des Textes.

Auf Grund dieser Annahme kann die »optische Harmonie der Kursive« mit den hier dargelegten Harmonieregeln eine sinnvolle und vernünftige Eigenschaft sein. Es hätte sich jemand ein musikalisches Notationssystem ausgedacht, welches »wohlklingende« musikalische Stilelemente auch »gut aussehen« lässt. In unserer heutigen Notenschrift ist das gar nicht so sehr anders, krasse Dissonanzen wie der Gleichklang des Intervalles der Sekunde wirken in der Notation auffällig und tonartfremde Noten erfordern zusätzliche Zeichen, die in der Regel schon optisch klar machen, dass hier etwas »ungewöhnliches« erklingt.

Abschließendes

Ich erwarte nicht, dass ein einziger Forscher glücklich über diese etwas plumpe, zurzeit noch mit wenig »harten Daten« belegte Erklärung ist. Zu vieles bleibt dabei unerklärt, etwa die Natur der Illustrationen oder die Labels. Ich selbst werde ein wenig in dieser Richtung weiterforschen – aber ich bin selbst ein »ausgelernter Optimist« und glaube nicht an den großen Durchbruch nach einer einzigen guten Idee.

Fraglich bleibt es vor allem, warum es keinen anderen überlieferten Zeugen für ein derartiges Notationssystem geben sollte. Eine schnelle Erklärung wäre, dass auf diese Weise monophone (einstimmige) Musik notiert wurde – die im späten Mittelalter von der polyphonen (mehrstimmigen) Musik immer mehr abgelöst wurde. Das System verschwand, weil es nicht leicht an die neue »musikalische Mode« anzupassen war – und es begann der Siegeszug des heutigen Notensystemes. Diese geht in seinem Kern übrigens auch auf ein mittelalterliches Vorbild, die »Numensysteme« zurück.

Eines aber sollte jedem klar sein: Nach vielen Jahrzehnten der Forschung, mit vereinter Geisteskraft, großen Enthusiasmus und der verfügbaren Rechenleistung der Jetztzeit ist das Voynich-Manuskript immer noch vollkommen »unverstanden«. Dass es sich nicht um einen mittelalterlichen »Fake« handelt, steht für mich unter Berücksichtung der bekannten Fakten und der sehr fremdartigen Struktur des »Textes« außer Frage. Von daher sollte jeder in aller Ruhe prüfen, ob der Fehler nicht in den grundlegenden Annahmen der bisherigen Forschung liegen könnte. Wir alle wollen aus einer Folge von rätselhaften Glyphen jene Stimme aus dem späten Mittelalter hören, die ein so einzigartiges und rätselhaftes Werk geschaffen hat. Und warum sollte diese Stimme nicht singen?

Thema: Ergebnisse, Interpretation | Kommentare (4) | Autor:

Die Glyphen und die Weirdos

Sonntag, 6. Januar 2008 12:55

An sich ist das Schriftsystem des Voynich-Manuskriptes einfach aufgebaut. Es gibt, wenn man die Glyphen nach ihrem ersten Strich kategorisiert, vier große Gruppen von Glyphen sowie einige besonders geformte Zeichen.

Die vier Gruppen der Glyphen

Die erste Gruppe von Glyphen beginnt mit einem kurzen, diagonal von oben links nach unten rechts geführten Strich, der mit weiteren Elementen versehen werden kann. Ich nenne diese Gruppe nach ihrer einfachsten Glyphe die I-Glyphen. (Dies ist meine Benennung und kein allgemein üblicher Name.) Diese sind etwa i, r, n, l, m.

Die zweite Gruppe von Glyphen beginnt mit einem kleinen Bogen, der mit weiteren Elementen versehen werden kann, aber auch häufig für Ligaturen verwendet wird (EVA ch). Ich nenne diese Gruppe nach ihrer einfachsten Glyphe die E-Glyphen. (Auch dieser Name ist nicht allgemein üblich.) Diese sind etwa e, s, ch, g, sh, o; aber auch d, y und a sind wegen ihres ersten Striches zu dieser Gruppe zu zählen.

Die dritte Gruppe sind die Gallows, die mit einem langen, senkrechten Abwärtsstrich beginnen. Ich nenne diese Gruppe von Glyphen der allgemeinen Konvention folgend Gallows. Diese sind t, k, p, f. An einigen Stellen treten fantasievoll ausgeführte Formen der Gallows auf, die aber immer noch klar als Gallows zu erkennen sind.

In einer vierten Gruppe fasse ich Glyphen zusammen, die aus dem gewohnten Schema herausfallen. Der häufigste Vertreter dieser Gruppe ist das beinahe nur am »Wortanfang« auftretende q. Nach diesem auffälligsten Vertreter der ganzen Gruppe spreche ich von den Q-Glyphen. (Was wiederum kein allgemein üblicher Name ist.) Zu dieser Gruppe zähle ich auch das x, das im »Text« des Manuskriptes nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Es tritt entweder am Ende eines »Wortes« auf, oder es steht vor den Glyphen a, o oder y. Hier drängt sich der Gedanke auf, dass diese ungewöhnliche Glyphe – ähnlich wie q – eine besondere, noch nicht verstandene technische Funktion erfüllt. In den Ringen der kreisförmigen Diagramme erscheint x allerdings gleichberechtigt neben anderen Glyphen, was bei q nicht der Fall ist.

Die Glyphen der ersten und zweiten Gruppe folgen häufig wiederholt aufeinander und scheinen in diesen Kombinationen eigene Zeichen (also Bedeutungseinheiten) zu bilden, wie es sich in den typischen Endungen ir, iir, in, iin, iim am erkennbarsten zeigt. Wenn man sich längere Zeit mit dem Manuskript beschäftigt hat, bekommt man ein Gefühl dafür, dass in den meisten »Wörtern« des »Textes« die Abfolge der Glyphengruppen nicht willkürlich ist, sondern gewissen Regeln folgt, die nur am Ende eines »Wortes« häufiger durchbrochen werden. (Ich werde später einmal mehr darüber schreiben.) Tatsächlich hilft mir diese Einsicht manchmal, fragwürdige Stellen einer Transkription zu erkennen – aber das »verdammte Manuskript« enthält auch wirklich Abfolgen von Glyphen, die diesen Regeln widersprechen.

Es ist also ein praktisches, schnörkelloses und elegantes Schriftsystem, das einem begegnet, wenn man sich mit dem Manuskript beschäftigt. Der größte Teil des »Textes« wird aus sehr einfachen Elementen gebildet, die sich gut mit einer Feder schreiben lassen. Es entsteht fast schon der Eindruck einer gewissen Phantasielosigkeit.

Die Weirdos

Umso verwunderlicher erscheint es da, dass es immer wieder einzelne Glyphen gibt, die sehr selten sind und die sich nicht in das einfache System einzufügen scheinen. So lange die Bedeutung des Schriftsystems nicht bekannt ist, kann niemand eine Aussage darüber treffen, ob diese Zeichen lediglich Nachlässigkeiten (oder Spielereien) des Schreibers sind, oder ob sie eine besondere Bedeutung tragen. Jede Transkription hat mit diesen seltsamen Glyphen zu kämpfen, die meisten einfachen Auswertungen mithilfe eines Computers scheinen dieses Problem zu ignorieren. Im englischen Sprachraum spricht man von den Weirdos, ein Wort, das ich mangels besserer Bezeichnungen gern übernehme…

Die Weirdos sind gar nicht selten. Auf beinahe jeder Seite lässt sich mindestens ein Beispiel finden, und auf einigen Seiten treten sie stark gehäuft auf. Einige Weirdos sind nur leichte Abwandlungen des Zeichenvorrates, einige andere scheinen auf einen unverständigen Versuch der Restauration zurück zu gehen, und wieder andere sind von großer Besonderheit. Die hier vorgestellten Weirdos sind nur eine kleine Auswahl der bösen Überraschungen, die einem das Voynich-Manuskript in den Weg legt, wenn man es zu lesen versucht. Beispiele, die ganz offenbar auf fehlerhafte Restauration zurückgehen, wurden bewusst ausgeklammert; ferner werden solche Weirdos nicht erwähnt, die – wie die beiden seltsamen Gebilde auf dem linken Rand der Seite f1r – nicht sicher als Glyphen im »Text« erkennbar sind. Ich hoffe, das diese kleine und völlig unvollständige Sammlung das Misstrauen gegenüber den gängigen Transkriptionen verstärkt und die Neigung erhöht, sich mit dem richtigen Manuskript zu befassen.

Einige (sehr wenige) Beispiele

q'oViele Weirdos sind gar nicht so ungewöhnlich, wie der Name Weirdos vermuten lässt. Er leitet sich vom englischen Adjektiv »weird« ab, das zu Deutsch so viel wie »sonderbar« oder »unheimlich« bedeutet. Auch an einem »Wort«, das mit qo beginnt, ist zunächst nichts Sonderbares, es handelt sich um ein sehr häufiges Präfix. Auch ist es im Manuskript gar nicht unheimlich, dass ein häufiges Präfix als einzelnes Wort auftritt. Was diesen Weirdo auf Seite f1v auszeichnet, ist der deutlich sichtbare, horizontale Strich über der o-Glyphe, der den Eindruck eines diakritischen Zeichens erweckt. (In lateinischen Handschrift wurde mit einem solchen Strich über einem Vokal ein »m« notiert.) Ein solcher Strich taucht an keiner anderen Stelle des Manuskriptes auf.

polEbenfalls auf Seite f1v findet sich in der letzten Zeile diese Besonderheit, die auf dem ersten Blick kaum ins Auge fällt. Das Wort wird einfach als pol »gelesen«. Dabei ist die p-Glyphe ungewöhnlich geformt. Ihr senkrechter Strich geht nicht bis auf die Grundlinie herunter, sondern ist auf einen e-Strich aufgesetzt, was sehr außergewöhnlich ist. Natürlich kann es sich hier um eine Korrektur des Schreibers handeln, aber es ist schon erstaunlich, dass dieser ausgerechnet ein Gallow vergessen haben sollte, um gleich mit dem ersten Bogen der folgenden o-Glyphe zu beginnen. Selbst, wenn dies sein Fehler gewesen sein sollte, es ist genügend Abstand zum vorhergehenden Wort vorhanden, um das eventuell vergessene p nachträglich einzufügen. Diese Schreibweise erweckt den Eindruck einer Absicht des Schreibers, und zwar einer im Manuskript sehr ungewöhnlichen und damit rätselhaften Absicht.

sa'iinDie Seite f2r erfreut nicht nur durch ihre gute »Lesbarkeit«, sondern auch durch ein besonders seltsames Wort, das sich am zutreffendsten als sa‹iin transkribiert. Doch schon die Gestalt der s-Glyphe entspricht nicht dem Regelfall, da der obere Bogen eine Schleife formt und offenbar vom Autor vorsichtig mit der Federspitze gezogen wurde, um diese Form auch wirklich sicher auf Pergament zu bringen. Sehr ungewöhnlich ist aber auch der – sonst vor allem in der Komposition des sh gebräuchliche – Bogen zwischen a und i.

OsEin in den gewöhnlichen Konzepten gar nicht richtig transkribierbarer Weirdo findet sich auf Seite f4r. Die erste Glyphe passt nicht in die normalen Gestaltmerkmale des Zeichenvorrates. Sie sieht aus, als wäre sie eine um 180 Grad gedrehte e-Glyphe oder der abschließende Bogen einer o-Glyphe ohne den ersten Strich eines o. Um das hier abgebildete »Wort« in eine Transkription zu übernehmen, muss eigens für diese seltsame Glyphe eine Notation eingeführt werden. Tatsächlich haben hier fast alle Transkriptoren eine unlesbare Glyphe notiert oder das deutlich erkennbare Artefakt überhaupt nicht in die Transkription aufgenommen, als sei es ein Tintenklecks. In jedem Fall ist der Bogen zu weit von der Pflanzenzeichnung entfernt, um ein möglicher Bestandteil des grafischen Entwurfes zu sein. Es handelt sich um einen Bestandteil des »Textes«

qoSeite f4v zeigt in der vierten Zeile eine wirklich ungewöhnliche q-Glyphe. Der senkrechte Strich reißt sehr weit nach oben aus und erweckt so fast den Anschein, als hätte der Autor an dieser Stelle beinahe versehentlich einen Gallow schreiben wollen, diesen aber noch zu einem qo »gerettet«. Weil das nächste Wort jedoch nicht direkt mit einem Gallow beginnt, ist diese schnelle Erklärung eher fragwürdig. Da das nächste Wort jedoch mit der Ligatur cth beginnt, könnte sich hier jedoch ein kleiner, sehr unsicherer Hinweis darauf finden, dass der Autor beim Schreiben der ch-Ligaturen mit einem Gallow in der Mitte so vorgegangen ist, dass er mit dem Gallow begann. Aber das ist natürlich eine Spekulation auf sehr dünner Grundlage…

ckyEin recht häufiger Weirdo ist die unvollständig ausgeführte ch-Ligatur mit einem integrierten Gallow. Das abgebildete Beispiel ist der Seite f8r entnommen. Im Regelfall tritt die c-Glyphe nicht alleinstehend auf, sondern nur in der Kombination ch. Aber es gibt im Manuskript immer wieder Beispiele dafür, dass das c an einem Gallow endet und nicht wie erwartet in einem h (oder, was seltener auftritt, in einem o oder y) fortgesetzt wird.

rotchy rodaiinImmer wieder begegnet man auch Ausführungen der vertrauten Glyphen, deren Abweichungen von der normalen Form so stark und auffällig sind, dass man nicht an eine Beiläufigkeit glauben mag. Dies gilt etwa für die beiden einleitenden r-Glyphen der Zeilen 11 und 12 auf Seite f10r, deren Anfangsstrich eine deutlich vom Schema der i-Glyphen abweichende Form hat und aus dem normalen Duktus der Schrift klar herausfällt. Obwohl dies ein sehr auffälliger Weirdo ist, eine Glyphe, deren Gestalt eher an eine arabische Ziffer »3″ als an ein r erinnert, wird hier meistens ein r gelesen.

rDie seltsame Form einer i-Glyphe mit »anderem«, nach hinten gebogenem Anfangsstrich taucht gar nicht so selten im Manuskript auf, ein anderes Beispiel ist dieses n auf Seite f14v in der sechsten Zeile. Trotz des deutlich geformten Bogens und der Tatsache, dass diese Glyphe höher als die anderen Glyphen der Zeile steht und allein dadurch wirklich auffällt, liest hier jede Transkription ein n.

qTain?Die Seite f15v zeigt in der zweiten Zeile eine seltsame Mischbildung aus einer q-Glyphe und einem Gallow. Obwohl diese Seite starke Anzeichen der Restauration zeigt, tritt diese Seltsamkeit gerade an einer eher unverdächtigen Stelle auf. Diese Glyphe ist für einen Gallow zu niedrig, dennoch wurde der Anfangsstrich ungefähr auf der richtigen Höhe begonnen, aber viel zu weit nach unten gezogen.

choyEine seltsame und einmalige Glyphe, die entfernt an die y-Glyphe erinnert, findet sich auf Seite f19r. Auffällig ist hier, dass die Glyphe über einer o-Glyphe begonnen wurde. Da das so geformte Symbol keine erkennbare Ähnlichkeit zu einer anderen Glyphe hat, kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hier um eine Korrektur eines Schreibfehlers handelt – oder aber, der Autor hat nur sehr selten Schreibfehler gemacht. Die Tatsache, dass auch f19r stark von Restauration geprägt ist, macht die Beurteilung nicht einfacher.

r?Recht unverdächtig in Hinblick auf Restaurationen sieht hingegen Seite f20r aus, und dennoch findet sich hier ein rätselhafter Weirdo. Was einige Transkriptoren als ein r »gelesen« haben, ist in Wirklichkeit ein etwas zu klein geratenes s mit einem Bogen, der mit dem oberen, rückwärts geschwungenen Bogen des s zusammenfließt. Der Gesamteindruck ist ein schwer deutbares Zeichen, das allerdings mit Gewissheit nicht als r zu »lesen« ist.

okokamViele Weirdos sind ungewöhnlich geformte Gallows, so wie dieses Beispiel aus der ersten Zeile der Seite f24v. Natürlich bleiben diese Gallows noch als Gallows erkennbar, aber es wird schwierig, sie vernünftig zu deuten. So ein k mit einem deutlichen Knick kann einfach nur auf ungewöhnliche Weise verziert sein, es kann aber auch eine Mischform zwischen k und f andeuten oder es kann sich auch um ein völlig anderes Zeichen handeln. Das Transkriptionsalphabet EVA hat eigens für diese eine Glyphe den speziellen Code 146 eingeführt, so dass hier wenigstens die »richtige« Lesart klar ist.

ho?Aber es ist kaum möglich, für jede Seltsamkeit im Schriftfluss einen eigenen Code einzuführen. Diese Glyphe auf Seite f25v erweckt den Eindruck, als sei sie die rechte Hälfte eines Gallows, der ohne den senkrechten Strich geschrieben worden wäre. Um eine Notlösung des Schreibers wegen Platzmangels kann es sich kaum handeln, da genügend Raum zur vorhergehenden o-Glyphe vorhanden ist. Die Glyphe ist genau so rätselhaft wie das kleine Schildkröt-Drachen-Pferd, das in der unteren linken Ecke an der Pflanze nascht. (Vorschläge für einen besseren Namen für dieses »Tier« sind willkommen.)

Abschließendes

Ich habe hier nur Beispiele von Weirdos erwähnt, die auffällig sind und wahrscheinlich nicht auf das Werk einer unverständigen Restauration zurückgehen. Es ist leicht, auf beinahe jeder Seite mindestens ein Beispiel für eine nicht genau bestimmbare Glyphe zu finden. Die recht bekannten Seiten, auf denen sich Weirdos stark häufen, habe ich hierfür gar nicht betrachtet, obwohl diese Seiten in vielfacher Hinsicht sehr interessant sind.

So unsicher die Bedeutung der Weirdos ist – wir wissen ja gar nichts über die Bedeutung des Schriftsystemes – so wichtig ist dieses Thema. Handelt es sich in einigen Fällen um Verschreiber des Autors, die von ihm selbst korrigiert wurden, indem sie zu Weirdos geformt wurden, so können diese Artefakte etwas neues über die Vorgehensweise des Autors bei der Niederschrift verraten. Damit könnten sie auch einen Fingerzeig auf das zur Verschlüsselung angewendete Verfahren geben, wenn hier überhaupt eine Verschlüsselung vorliegt. Angesichts der Tatsache, dass wir alle nach Jahrzehnten der Forschung immer noch nichts wissen, könnten solche kleinen Indizien ein neuer Ansatzpunkt werden, das Manuskript zu verstehen – oder doch wenigstens mit einem neuen Ansatz zu scheitern… 😉

Es lohnt sich also, ein offenes Auge für die Weirdos zu haben. Vor allem, weil wir aus den regelmäßigeren Glyphen auch noch nicht schlau geworden sind. Dennoch verwenden wir alle immer wieder Transkriptionen, die eine Regelmäßigkeit vortäuschen, die sich im wirklichen Manuskript nicht in diesem Maße finden lässt.

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Ausnahmen ohne Regel

Dienstag, 2. August 2005 1:36

Bei einer ersten, nicht besonders gründlichen Durchsicht der frisch angelegten Konkordanz stellte ich keine auffälligen Muster in den »Wörtern« fest. Natürlich gibt es »Wörter«, die tendenziell häufiger zu Anfang oder zum Ende einer Zeile auftreten, dies liegt jedoch an der schon häufiger beobachteten Struktur in einer Zeile. Der Eindruck, dass die Zeile eine Informationseinheit ist, lässt sich nicht leicht von der Hand weisen.

Wenn etwa das mit 98 Vorkommen (in der Transkription von Takeshi Takahashi, die ich für diese kurze Analyse verwendet habe) recht häufige »Wort« dam besonders häufig als letztes Wort in einer Zeile auftritt, so liegt das an der wohl bekannten Eigenschaft der Glyphe m, bevorzugt am Ende einer Zeile aufzutreten. Das ist keine neue Erkenntnis.

Ich erhoffte mir allerdings jetzt einen besseren Blick auf die Ausnahmen, also jene Fälle, in denen dam nicht am Ende einer Zeile steht. Würden in solchen Fällen besondere Muster in den vorherigen oder folgenden »Wörtern« auftauchen?

Aber die traurige Wahrheit ist: Zumindest für dam gibt es keine Regelmäßigkeiten in den Ausnahmen. Es finden sich häufige »Wörter« ebenso wie seltene oder einmalige, es gibt keine auffälligen Strukturen in diesen »Wörtern«, es gibt einfach nichts, was ein neues Licht auf die Sache wirft. Alles andere hätte mich auch überrascht. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

Aber es ist ja gar nicht so sicher, dass die Leerzeichen »Wörter« voneinander trennen: di ege schick te eins tre ungvonle erz eich enkan nein entex tschong utvers chle iern, was denn jeden Versuch, Wortarten aufzufinden, schnell scheitern lässt. Und wie Sie an diesem Beispiel sehen, ist ein solcher Text für einen der Sprache kundigen Menschen durchaus noch lesbar, wenn auch mit etwas Mühe.

Aber die Konkordanz bleibt dennoch ein schönes und einfaches Hilfsmittel, um kleine Vermutungen bezüglich der Wortfolge schnell zu überprüfen.

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