Beiträge vom Januar, 2010

Warum es hier (momentan) so still ist

Montag, 11. Januar 2010 15:33

Wo ein Ausblick zu schreiben wäre, habe ich zurzeit vor allem einen Rückblick.

Ich gestehe offen ein, dass mich das Ergebnis der Datierung des Pergamentes überrascht hat, und dass ich ebenso davon überrascht wurde, dass die Tinte »nicht lange« nach der Herstellung des Pergamentes aufgetragen wurde – wobei ich mir gerade in diesem Punkte ein wenig mehr Information wünschte. Aber es ist ja keine zerstörungsfreie Messung, und das »verdammte Manuskript« hat jetzt umso deutlicher belegt, dass es zumindest als Artefakt des späten Mittelalters echt ist und darin auch einen erheblichen Wert allein dadurch hat, dass es nicht in die allgemeinen Vorstellungen von diesem Zeitalter passen will – weder in der angewendeten, noch heute rätselhaften Kryptografie, noch in der seltsamen psychologischen Qualität seiner flüchtigen Illustrationen.

Als ich vor vielen Jahren damit begann, mich ernsthaft mit dem Voynich-Manuskript zu beschäftigen, ging ich zunächst davon aus, dass es echt ist – also keine moderne, aus geschäftlichen Interesse angefertigte Fälschung ist – und dass es alt ist, dass es spätestens im sechzehnten Jahrhundert verfasst wurde. Die in diesem verschlüsselten Dokument liegende Aufgabe einer Entschlüsselung hielt ich in der begeisterten Naivität eines Neulinges für eine leichte, und ich erwartete davon auch keinen besonderen Aufschluss über das Mittelalter, also keinen bemerkenswerten Text, der, erst einmal gelesen, wegen seines Inhaltes dazu führt, dass große historische Erkenntnisse in die Geschichtsbücher aufgenommen werden müssten. Nein, ich erwartete – vor allem wegen der fremdartigen, außerweltlichen Darstellungen – so etwas wie einen »Esoterik-Schinken« des Mittelalters, geschrieben in relativ schwach verschlüsselter Sprache, deren Strukturen noch in den »Wortformen« durch den »Text« hindurchdringen.

Im Laufe der Jahre wurde ich mir – mit zunehmenden Wissen über die Tatsächlichkeit des Manuskriptes – über meine anfänglichen Annahmen immer unsicherer.

Als ein Mensch, der weiß, Computer zu benutzen, stürzte ich mich zunächst in die verfügbaren Transkriptionen, um an ihnen recht gewöhnliche Untersuchungen vorzunehmen. Dabei fand ich heraus, wie seltsam und fremdartig in diesem Manuskript nicht nur die Illustrationen, sondern auch die »Texte« sind. Der auffällig europäische Charakter der Illustrationen passte nicht zu einer »sprachlichen« Struktur, die sich mit keiner in Europa gesprochenen Sprache in Übereinstimmung bringen lässt. Aus dieser Beobachtung heraus musste ich meine ersten Hypothesen, die über die angenehme Eingeschaft der Überprüfbarkeit verfügten, verwerfen und immer mehr durch nur schwierig überprüfbare Hypothesen ersetzen. Ich versank – wie so viele vor mir – in einem schlüpfrigen Sumpf der Spekulation und der zusätzlichen Annahmen. Zusätzliche Daten brachten nicht etwa zusätzliche Klarheit, sondern machten das Rätsel nur größer, unfassbarer, entmutigender. Das scheinbare Alter des Manuskriptes erschien mir im Spiegel des zunehmenden Wissens immer weniger glaubwürdig, und die Möglichkeit einer kunstvollen Fälschung durch einen späteren Betrüger und Geschäftemacher drängte sich immer mehr auf. Auch, wenn ich dies selten explizit erwähnte, lässt sich der gesamte Prozess in diesem Blog verfolgen.

Mit der jetzt endlich vorliegenden, sicheren Datierung des Voynich-Manuskriptes hat dieser Prozess eine weitere Stufe erreicht. Das Manuskript ist wirklich so alt, wie es mir auf dem ersten Blick erschien, und es wirklich so seltsam, wie es dem Betrachter entgegentritt.

Nun, das ist jetzt immerhin eine bekannte Tatsache. Wie jede Tatsache steht sie mit ihrer gebieterischen Existenz vor uns und wir sind damit geplagt, uns einen Reim darauf zu machen.

Und ja, es hätte schlimmer kommen können! Der zweifelsfreie Beleg, dass es sich beim Voynich-Manuskript um eine moderne Fälschung handele, hätte bei mir durchaus eine gewisse Erlösung verursacht, aber er hätte auch bedeutet, dass Jahre der geistigen Auseinandersetzung mit diesem »verdammten Manuskript« nichts als vergeudete Energie gewesen wären. Aber so viel steht zumindest fest: Es hat sich in den ganzen Jahren niemand an einem kunstvollen Schwindel abgearbeitet, das Manuskript ist als authentisches Relikt des Mittelalters ein großes und beachtliches Rätsel, das danach schreit, in irgendeiner (hoffentlich nachvollziehbaren) Weise verstanden und interpretiert zu werden.

Insbesondere erhalten alle bislang erkämpften Ergebnisse in diesem Bemühen ihre Gültigkeit. Einige von ihnen sind so seltsam, dass sie eigentlich auch einen Hinweis auf die wirkliche Natur des Manuskriptes geben müssten:

  • Die Pflanzen in den Illustrationen haben keine biologische Existenz. Die Illustrationen sind möglicherweise ebenfalls auf eine schwer verständliche Weise verschlüsselt oder reine Phantasieprodukte. Angesichts des großen Raumes, den die Illustrationen auf teurem Schreibmaterial einnehmen, kann diese Tatsache nicht bedeutungslos sein, sie ist ein wichtiger Teil des Ganzen.
  • Der »Text« ist hochgradig redundant und transportiert pro EVA-Zeichen weniger als zwei Bit Information. Darüber hinaus ist der »Text« von aufeinanderfolgenden, identischen »Wörtern« geprägt, die so in keiner europäischen Sprache auftreten, während das Schriftsystem seine europäischen Vorbilder nicht verleugnen kann. Es lassen sich auch durch eingehende Betrachtung praktisch keine Wortarten anhand einer Stellung im Wortgefüge identifzieren (oder ich bin doch zumindest gründlich daran gescheitert), wenn man einmal von der artikelhaften »Wortbestandteilen« wie qo oder ot absieht. Die Annahme, dass es sich um eine schwach verschlüsselte, europäische Sprache handelt, fällt bei gründlicher Betrachtung in sich zusammen, und nur die Einführung einer zusätzlichen Hypothese von einer nicht-europäischen, ausgestorbenen oder künstlichen Sprache kann diese Annahme »retten«.
  • Die »Astrologie« (der Tierkreis) im Manuskript ist für das Mittelalter beispiellos. Besonders beachtenswert ist die völlige Indifferenz gegenüber dem Mond, der – nach meinen Informationen – in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Astrologie eine wichtige Rolle spielte.
  • Die Illustrationen im »biologischen Teil« sind für das Mittelalter beispiellos und überdem das Seltsamste, was ich jemals gesehen habe. Die »kosmologischen« Illustrationen können beinahe jedes kosmologische Konzept darstellen, sind also kaum interpretierbar und damit als Verbildlichung eines damit transportierten Konzeptes sinnlos.
  • Es gibt keine deutlichen Anspielungen auf bekannte europäische Kultur, Religion, Esoterik oder Spiritualität des Mittelalters. Die wenigen diesbezüglichen Symbole erwecken durch ihre abweichende Tintenfarbe den Eindruck nachträglicher Hinzufügungen.

Auf diesem Hintergrund behält meine (leider letztlich unüberprüfbare) Hypothese, dass es sich beim Voynich-Manuskript um ein Produkt einer psychologischen Rückkopplung handele, ähnlich wie beim automatischen Schreiben, der Glossolalie oder beim kollektiven ideomotorischen Effekt, der die »Botschaften« auf einem Ouija-Brett hervorbringt, ihre Gültigkeit – und sie würde auch erklären, dass bislang jeder Versuch gescheitert ist, diesem »Texte« seinen Sinn zu entreißen.

Hier sehe ich noch einen Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen, insbesondere würde mich ein Vergleich der Zeichenfolge des Voynich-Manuskriptes mit transkribierter Glossolalie eines überzeugten Praktizierenden sehr interessieren. Leider gibt es nicht genügend frei verfügbares und bequem transkribierbares Material, als dass ich einen solchen Vergleich durchführen könnte. (Wer hier mitliest und als Mitglied einer religiösen Gemeinschaft selbst Glossolalie praktiziert und bereit ist, mir einige längere Aufnahmen zur Verfügung zu stellen, melde sich bitte. Ein einfacher Kommentar zu diesem Artikel genügt, die angegebene Mailadresse wird nach außen nicht sichtbar und ich garantiere auf Wunsch auch eine völlig anonyme Behandlung, wenn ich das Ergebnis eines solchen Vergleiches veröffentliche. Ich selbst kann es nicht tun, da sich die Strukturen des Manuskriptes fest in mein Unterbewusstes eingegraben haben. Alle Vergleiche zwischen einer von mir erzeugten Glossolalie und dem Manuskript wären deshalb wertlos.)

Aber ich weiß natürlich auch, dass das nicht die »harten Daten« sind, die von vielen Forschern so gewünscht werden. Indizien dafür, dass jegliche Bemühung fruchtlos sein könnte, gibt es schon genug – allein durch das Scheitern einer großen, kollektiven Geistesanstrengung vieler, zum Teil hochqualifizierter Forscher am Voynich-Manuskript. Für mich ist dieses Zeichen ein Grund mehr, auf die »psychologische Karte« zu setzen, denn solche Untersuchungen wurden bislang eher vernachlässigt, obwohl sie durchaus möglich sind. Wenn der bislang beschrittene Weg sich als Sackgasse erweist, muss ein neuer Weg gesucht werden.

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