Grünes Wasser

Dass sich im so genannten »biologischen Teil« eine Menge stereotyp gezeichneter nackter Nymphen in Wassern herumtollen, die durch teilweise sehr organisch aussehende Strukturen miteinander verbunden werden, das kann man in jedem guten Einführungstext lesen. Die Illustrationen im Manuskript sind eben wirklich sehr fremdartig und scheinen teilweise gar nicht in das späte Mittelalter zu passen.

Was hingegen kaum jemals Beachtung findet, obwohl es völlig offensichtlich ist, das ist die Farbe des Wassers. Alle großen Wasserflächen sind nämlich grün. Und das ist eine recht ungewöhnliche Farbwahl, wenn man Wasser darstellen will.

Das heißt aber nicht, dass der Illustrator keine blaue Farbe zur Verfügung gehabt hätte. Im oben stehenden Bild (ein Ausschnitt aus Seite f82r) kann man nicht nur an der Nymphe oben links (zum Label okaldy) eine deutliche Spur der Restauration sehen, die sich darin zeigt, dass sich neben der nachgezeichneten Rückenlinie noch eine sichtbare verblichene Linie der ursprünglichen Zeichnung befindet. Nein, es ist auch völlig offensichtlich, dass die Nymphe ganz rechts (zum Label okairady) knietief in einem kleinen Behälter mit blauem Wasser steht, und diese Farbe würde man ja eher für die Darstellung von Wasser erwarten.

Dass der Illustrator nicht farbenblind war und auch keine Grün-Blau-Schwäche hatte, zeigt sich darin, dass die »Pflanzen« mit grünen Blättern dargestellt wurden, und nicht mit blauen — obwohl diese »Pflanzen« ansonsten sehr ungewöhnliche Gestaltmerkmale haben. Die Farbgebung des Wassers ist also absichtsvoll erfolgt.

Und so gesellt sich zu vielen Rätseln ein weiteres. Und wieder kann man nur spekulieren, warum jemand auf die Idee kommt, grünes Wasser darzustellen. Hier meine ersten Ideen:

  • Es soll dargestellt werden, dass das Wasser sehr viele Algen enthält, die es intensiv grün färben. Solche grünen Gewässer kann man gelegentlich sehen, vor allem Bergseen können manchmal eine sehr überraschende und unnatürlich anmutende Farbe haben.
  • Es soll auf eine ungewöhnliche Eigenschaft des Wassers hingewiesen werden. Es könnte sich dann um die Darstellung eines Jungbrunnens oder eines ähnlichen mythischen Gewässers handeln, und die grüne Farbe soll die lebensspendene Wirkung unterstreichen.
  • Es handelt sich nicht um Wasser. Es könnte sich etwa um heilkräftigen Schlamm handeln, der über ein komplexes Leitungssystem in große Badebecken gelangt. Oder um eine Allegorie des Lebens, in dem sich verschiedene, als benannte Nymphen symbolisierte Geistwesen oder Gottheiten im heiteren Spiel agierend bemerkbar machen. Oder…

Dies ist wieder ein schönes Beispiel, wie schwierig die Interpretation eines in jeder Hinsicht einmaligen Werkes sein kann. Wenn man es doch nur lesen könnte!

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Datum: Mittwoch, 3. August 2005 4:21
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