Strukturen innerhalb einer Zeile
Die Annahme, dass es sich beim Voynich-Manuskript um eine direkt notierte Sprache in einem lediglich unverständlichen Notationssystem handele, wird durch viele belegte Eigenschaften der Glyphenfolge gestützt. Zusammen mit dem fließenden Text entsteht so der Eindruck von ohne Benutzung von Hilfsmitteln niedergeschriebenen Notizen, die nur relativ schwach verschlüsselt sind. Es gibt jedoch im Manuskripte Eigenschaften, die diesem Eindruck widersprechen. Schon mit relativ einfachen Untersuchungen lassen sich Strukturen innerhalb der Textzeilen des Manuskriptes aufzeigen, die in natürlicher, weitgehend phonetisch notierter Sprache nicht auftreten sollten und sehr rätselhaft sind. Die nähere Untersuchung dieser Eigenschaften verspricht einen Ansatz zum Verständnis des Verfahrens, das für die Verschlüsselung des Voynich-Manuskriptes Verwendung fand.
Viele Forscher gehen davon aus, dass es sich beim Voynich-Manuskript um eine direkt niedergeschriebene Sprache handele. Diese Annahme wird gestützt vom Augenschein und von einigen statistischen Eigenschaften der Zeichenfolge, die eine große Ähnlichkeit zu gewöhnlichen sprachlichen Strukturen nahelegen.
Geht man von dieser Annahme aus, so stellt sich beim »Lesen« des Manuskriptes in erster Linie das Problem, eine phonetische Zuordnung der Glyphen zu finden, welche diese Sprache wieder erklingen lässt, um daraus die Sprache zu identifizieren und nach Möglichkeit zu verstehen. Da ein solches Vorgehen bislang für eine Vielzahl von Sprachen gescheitert ist, kommt es immer wieder zu weit hergeholten Hypothesen, deren bekannteste wohl ist, dass es sich um eine phonetisch notierte fernöstliche Sprache handeln könne. Die Tatsache, dass die Illustrationen des Manuskriptes offensichtlich europäisch sind, dass sie keinerlei Ähnlichkeit mit fernöstlichen Symboliken aufweisen, kann solches Spekulieren leider nicht bremsen.
Diese Spekulationen führen allerdings zu nichts, sie sind nur mit dürftigen Indizien belegt und aufgrund der wegen des ideographischen Schriftsystemes nur rudimentär bekannten, historischen chinesischen Phonetik auch kaum falsifizierbar. Man könnte eben so »gut« annehmen, dass hier eine UFO-Besatzung ein Buch geschrieben und auf der Erde zurückgelassen habe, und man kann damit ebenfalls alles »erklären« ? wenn eine Hypothese jedoch alles »erklären« kann, denn erklärt sie nichts. Dass sich die »fernöstliche Annahme« dennoch so lange halten konnte und bis heute eine gewisse Aufmerksamkeit in Kreisen der »Voynichologen« genießt, ist vor allem ein Zeichen der Hilflosigkeit gegenüber dem »verdammten Manuskript« und dem Mangel an jeglichem Fortschritt im Bestreben, seine Nachricht zu lesen.
Eine wenig beachtete Tatsache, die nach meiner Auffassung der Annahme einer direkt niedergeschriebenen Sprache widerspricht, sind die Strukturen innerhalb der Zeilen des Manuskriptes. Die Länge und Struktur eines »Wortes« verändert sich mit fortschreitender Position des »Wortes« innerhalb der Zeile; das »Wort« wird tendenziell um so kürzer und ärmer an Gallows, je weiter es am Ende der Zeile steht. Zudem gibt es gewisse Glyphen, die geradezu typisch für die letzten »Wörter« einer Zeile sind, etwa EVA »m«. Letzteres ist eine Eigenschaft des Manuskriptes, die schon bei naiver Betrachtung ersichtlich ist, und deshalb wird sie wohl so selten einer Untersuchung gewürdigt und nur selten mit »harten« Daten belegt. Dabei widerspricht diese Beobachtung dem Augenschein, dass es sich beim größten Teil des Manuskriptes um direkt niedergeschriebenen Text handelt, der Absätze in beinahe gewöhnlicher Sprache formt.
Schon sehr einfache computergestützte Untersuchungen können aufzeigen, dass die Wörter innerhalb der Zeile nicht gleichmäßig verteilt sind, dass es also Strukturen innerhalb der Zeile gibt, die einer Erklärung bedürfen, wenn wir das Manuskript lesen wollen.
Verwendete Daten
- Ich habe für die im Folgenden beschriebenen Untersuchungen die vollständige Transkription von Takeshi Takahashi aus dem interlinearen Archiv von Jorge Stolfi verwendet. Das Transkriptions-Alphabet ist folglich ein nicht-kapitialisertes EVA.
- Hieraus habe ich ausschließlich den »pflanzenkundlichen Teil« (so benannt nach der Gestalt der Illustrationen, die wirklichen Inhalte sind uns ja nicht bekannt) und die reinen Textseiten untersucht, da in diesen Teilen des Manuskriptes der Augenschein eines fließenden Textes besonders stark ist und die Existenz von Strukturen innerhalb der Zeilen aus diesem Grunde nicht erwartet wird. Eine Unterscheidung zwischen den beiden Currier-Sprachen habe ich nicht gemacht, diese wäre allerdings einfach durchzuführen, wenn eine solche Untersuchung weitere Erkenntnis verspräche.
- Die »astrologischen« und »kosmologischen« Seiten habe ich aus der Betrachtung ausgenommen, weil sie stark von Labels mit bekannten statistischen Eigenarten und von kreisförmigen Texten geprägt sind. Bei letzteren ist der Startpunkt für die Transkription oft reine Willkür. Die »biologischen« Seiten zeigen eine erhebliche textuelle Anomalie im Manuskript, die sich vor allem in einer hohen Redundanz des »Textes« äußert. (Der durchschnittliche Informationsgehalt eines Zeichens liegt dort unter einem Bit.) Der abschließende Teil besteht aus vielen sehr kurzen »Texten«, die schon für den Augenschein nicht den Eindruck normalen Flusstextes erwecken.
- Ferner habe ich nur Zeilen verwendet, die im Locator des Transkriptionsarchives als Zeile in einem Absatz gekennzeichnet sind. Labels und Titel sind keine Zeilen und könnten die Ergebnisse verzerren.
Alle »schwachen« Leerzeichen (in EVA mit einem Komma notiert) werden als Leerzeichen betrachtet, die ebenfalls eine »Wortgrenze« darstellen.
Eine Zeile, die nicht wenigstens fünf Wörter enthält, wird nicht ausgewertet. Bei den gewählten Methoden zur Untersuchung der Wortgestalt in Abhängigkeit von der Position des »Wortes« in der Zeile könnten solche Zeilen das Ergebnis verzerren.
Auswertungen
Mit diesen Daten habe ich für jeweils
- das erste »Wort« einer Zeile,
- das letzte »Wort« eine Zeile,
- das »Wort« in der Mitte der Zeile (Position ermittelt durch Division der Zeilenlänge durch 2) und zudem für
- das zweite »Wort« einer Zeile (weil das erste Wort jeweils noch weitere Informationen über die Verschlüsselung der Zeile enthalten könnte und deshalb ungewöhnlich gebildet sein könnte)
die folgenden Statistiken erstellt:
- Zählung der Worthäufigkeit
- Zählung der Zeichenhäufigkeit in der Transkription
- Zählung der Wortlänge in der Transkription
Darüber hinaus habe ich die Verteilung von Wörtern mit Gallows (EVA »t«, »k«, »p«, »f«) innerhalb der Zeilen untersucht.
Die von mir verwendeten Perl-Skripten und die vollständigen Ergebnisse dieser Auswertungen zusammen mit einer gut druckbaren Version dieses Textes als RTF-Datei stehen hier zum freien Download zur Verfügung.
Anmerkung zu den Auswertungen
Sowohl die Zeichenhäufigkeit als auch die »Wortlänge« ist eine Form der Auswertung, für die meines Erachtens die EVA-Transkription eher ungeeignet ist, wenn wirkliche Erkenntnisse erlangt werden sollen. Viele Glyphenfolgen, die im Manuskript den starken Anschein eines »Zeichens« erwecken, werden wegen des analytischen Charakters der EVA-Transkription zu mehreren ASCII-Zeichen, wie etwa die häufigen »ch«, »sh« und »iin«. Die Analyse der »Wortlängen« wird durch diesen Umstand verzerrt, und zwar in Abhängigkeit davon, wie das jeweils gezählte »Wort« gebildet ist; die »Zeichenhäufigkeit« ist ebenfalls eher sinnlos. Im besten Fall können solche Daten als Anhaltspunkte für eventuell lohnende, spätere Untersuchungen gelten.
Ergebnis der Wortzählungen
Dies sind die »Wörter«, die mit einer Häufigkeit von mehr als 0,5 Prozent als erstes »Wort« in einer Zeile erscheinen:
daiin 81 3.808% saiin 39 1.834% sain 32 1.504% dain 29 1.363% qokeedy 29 1.363% sol 28 1.316% sor 26 1.222% qokeey 25 1.175% qokaiin 22 1.034% dshedy 21 0.987% qokain 21 0.987% sar 20 0.940% dar 19 0.893% tchedy 19 0.893% pol 18 0.846% dair 17 0.799% ol 17 0.799% qokedy 16 0.752% tol 16 0.752% qol 15 0.705% y 15 0.705% ycheey 15 0.705% dchedy 13 0.611% dol 11 0.517% qokal 11 0.517% sal 11 0.517%
Zum Vergleich hier die gleiche Liste für das jeweils letzte »Wort« einer Zeile:
am 39 1.834% dy 38 1.787% ol 33 1.551% chedy 32 1.504% al 28 1.316% oly 28 1.316% dam 26 1.222% daiin 23 1.081% qoky 23 1.081% dal 22 1.034% otam 17 0.799% lchedy 16 0.752% lol 16 0.752% aiin 15 0.705% qokam 15 0.705% shedy 15 0.705% ary 13 0.611% dar 13 0.611% ram 13 0.611% dain 12 0.564% ldy 12 0.564% chey 11 0.517% oky 11 0.517% oldy 11 0.517% qoty 11 0.517%
Einige Unterschiede fallen auf dem ersten Blick auf. Erwartet und schon oft beobachtet ist der häufige Zeilenabschluss mit einem »Wort«, welches auf »m« endet. Etwas unerwarteter ist hier die Tendenz zu eher kurzen »Wörtern« und das auffällige Fehlen von »Wörtern«, die mit »s« beginnen. (In EVA steht das »sh« in »shedy« für ein »ch« mit so etwas Ähnlichem wie einem diakritischen Zeichen darüber und nicht für die Glyphe »s« in »saiin«, »sain«, »sor«, »sal« oder »sar«.) Generell lässt sich ein völliges Fehlen der »s«-Glyphe in den häufigsten »Wörtern« am Ende einer Zeile feststellen. Die möglichen »Wörter« sind also innerhalb einer Zeile nicht gleichmäßig verteilt; zumindest für die erste und letzte Wortposition einer Zeile liegen sehr unterschiedliche Verteilungen der Worthäufigkeit vor.
Dies ist ein unerwartetes Ergebnis, wenn man davon ausgegangen ist, dass hier zusammenhängender Text in Absätzen geschrieben wurde, wie es dem Augenschein entspricht. Würde es sich um einen Text in Versform handeln, wäre dieses Ergebnis hingegen nicht überraschend, da diese Form eine gewisse Verteilung der Wortarten innerhalb der Zeilen begünstigen würde. Die Annahme, dass es sich um einen gewöhnlichen, jeweils eine Pflanze beschreibenden Text in direkt notierter Sprache handelt, kann bereits auf diesem Hintergrund angezweifelt werden.
Wenn aber eine Form von Kryptografie vorliegt, ist es durchaus denkbar, dass das jeweils erste »Wort« einen Hinweis auf den Schlüssel enthält, der für diese Zeile verwendet wurde.
Aus diesem Grund habe ich die gleiche Auswertung für das jeweils zweite »Wort« einer Zeile durchgeführt, und zwar mit dem folgenden Ergebnis:
ol 69 3.244% shedy 56 2.633% shey 52 2.445% aiin 46 2.163% chey 45 2.116% chedy 40 1.881% cheey 32 1.504% ar 31 1.457% qokeedy 31 1.457% qokeey 25 1.175% sheol 25 1.175% cheol 24 1.128% or 24 1.128% al 21 0.987% chol 21 0.987% qokedy 20 0.940% sheedy 20 0.940% daiin 19 0.893% qol 19 0.893% sheey 19 0.893% qokaiin 18 0.846% qokain 18 0.846% okaiin 16 0.752% ain 15 0.705% okeey 15 0.705% sheor 15 0.705% shol 15 0.705% okain 14 0.658% lchedy 13 0.611% qokal 13 0.611%
Diese Liste enthält bereits kein »Wort« mehr, das mit »s« beginnt und auffallend viele kurze »Wörter« aus zwei Glyphen, sie weist also eine größeres Maß an Ähnlichkeit zur Verteilung der »Wörter« am Ende der Zeile auf. Allerdings gibt es hier auch eine wichtige Abweichung, und das ist die große Häufigkeit von »Wörtern«, die mit »ch« oder »sh« beginnen, was bei den häufigen »Wörtern« an abschließender Position in der Zeile kaum zu beobachten ist.
Die Zeile scheint also eine besondere, nicht offensichtliche Struktur zu haben. Die zweiten »Wörter« einer Zeile zeigen eine andere Häufigkeitsverteilung als die ersten »Wörter« einer Zeile, und beide Verteilungen unterscheiden sich recht deutlich von den letzten »Wörtern«. Die Ausdrucksweise »nicht offensichtlich« meint hier, dass diese Struktur bei einer Betrachtung des Manuskriptes nicht unmittelbar auffällt, sondern erst in einer Auswertung der Worthäufigkeiten in Abhängigkeit von der Wortposition innerhalb einer größeren Menge Text deutlich wird. In einer solchen Auswertung ist es dann aber sehr offensichtlich.
Es ist übrigens interessant, die gleiche Auswertung mit dem jeweils mittleren »Wort« einer Zeile durchzuführen. Ich habe die Position des mittleren »Wortes« ermittelt, indem ich die Anzahl der Wörter durch 2 geteilt habe und das Wort an dieser Position nahm, und kam so auf die folgende Häufigkeitsverteilung für das jeweils mittlere »Wort« einer Zeile:
chedy 56 2.633% shedy 51 2.398% ol 38 1.787% qokeey 37 1.740% daiin 34 1.598% qokedy 34 1.598% qokeedy 33 1.551% qokain 32 1.504% qokaiin 29 1.363% aiin 26 1.222% chey 26 1.222% qokal 25 1.175% chol 19 0.893% qol 19 0.893% okaiin 18 0.846% ar 16 0.752% or 16 0.752% qokar 16 0.752% otal 15 0.705% oteey 15 0.705% dal 14 0.658% dar 14 0.658% otedy 14 0.658% okain 13 0.611% qotedy 13 0.611% sheol 13 0.611% shey 13 0.611% al 12 0.564% cheol 12 0.564% okedy 12 0.564% okeey 12 0.564% cheey 11 0.517% dol 11 0.517% okeedy 11 0.517% otain 11 0.517% qoky 11 0.517%
Auch hier findet sich unter den häufigen Wörtern keines, das mit »s« beginnt. Auffallend ist allerdings die größere Häufigkeit von »Wörtern«, die einen Gallow enthalten. Die Listen der Wörter mit einer Häufigkeit von über 0,5 Prozent an einer untersuchten Position innerhalb der Zeile weisen
- 9 Gallows (34 Prozent der häufigsten »Wörter«) für die erste Position,
- 9 Gallows (30 Prozent der häufigsten »Wörter«) für die zweite Position,
- 17 Gallows (47 Prozent der häufigsten »Wörter«) für die mittlere Position, und
- 5 Gallows (20 Prozent der häufigsten »Wörter«) für die letzte Position
auf. Auch dies ist ein eher unerwartetes Ergebnis, es erweckt zunächst den Anschein, die Wörter mit Gallows würden sich in der Mitte der Zeile ansammeln. Dies ist jedoch nicht der Fall. Um das zu untersuchen, habe ich die Verteilung der »Wörter« mit Gallows auf die jeweils fünf Positionen am Anfang der Zeile, am Ende der Zeile und in der Mitte der Zeile mit einem weiteren Perl-Skript untersucht. In der folgenden Liste gibt die erste Zeile die Gallowhäufigkeit in den ersten fünf »Wörtern« der Zeile, die zweite Zeile in den mittleren fünf »Wörtern« der Zeile und die dritte Zeile in den letzten fünf »Wörtern« der Zeile wieder:
Start of line 49.365% 44.335% 57.217% 57.264% 54.866% Center of line 54.725% 56.041% 55.806% 56.747% 55.101% End of line 57.593% 54.020% 56.700% 56.794% 39.821%
Abgesehen von einem leicht geringeren Auftreten der »Wörter« mit Gallows an der zweiten Position und einem deutlich geringerem Auftreten solcher »Wörter« an der letzten Position der Zeile zeigen sich hier keine Auffälligkeiten in der allgemeinen Verteilung.
Die auffällige Häufung von »Wörtern« mit Gallows in der Liste der häufigsten »Wörter« der Mittelposition kann also nur bedeuten, dass die »Wörter« mit Gallows am Anfang einer Zeile signifikant variabler und unregelmäßiger als in die Mitte der Zeile geformt sind und deshalb nicht in einer solchen Auflistung aufscheinen, da sie von regelmäßiger gebildeten »Wörtern« ohne Gallows von dort verdrängt werden. Dies sollte in folgenden Untersuchungen wesentlich präziser gefasst werden, für den Moment reicht die Erkenntnis, dass subtile Feinheiten der Wortstruktur von der Position des Wortes in der Zeile abhängig sind. Und genau das ist ein unerwartetes Ergebnis, wenn Wörter eines Absatzes einfach hintereinander weggeschrieben werden, es ist ein Zeichen dafür, dass hier trotz aller statistischer Sprachähnlichkeit der Glyphenfolge keine natürliche Wortfolge einer prosaischen Sprache vorliegen kann. Weitere Gedanken hierzu folgen in den abschließenden Betrachtungen.
Verteilung der Wortlängen
Eine andere Beobachtung lässt sich hingegen bestätigen. Die Wörter werden zum Ende hin kürzer, zumindest, wenn man die Wortlängen in einer EVA-Transkription betrachtet. Selbst, wenn dies nur ein Artefakt des EVA-Alfabetes sein sollte, zeigt es doch statistisch greifbare, strukturelle Änderungen in der Gestalt der durchschnittlichen »Wörter« in Abhängigkeit von ihrer Position in einer Zeile.
Beim ersten Wort einer Zeile beträgt die durchschnittliche Wortlänge 5,57 Zeichen, beim letzten Wort 4,7 Zeichen, der Unterschied beträgt also fast ein EVA-Zeichen und ist damit durchaus als signifikant zu betrachten. Die Länge des mittleren Wortes beträgt übrigens im Durchschnitt 5,3 EVA-Zeichen, und mit der deutlichen Ausnahme der zweiten Wortposition einer Zeile nimmt die Länge tendenziell mit der Position des »Wortes« in der Zeile ab. Es handelt sich hierbei nicht nur um ein Artefakt, das dadurch entsteht, dass der Autor zum Ende einer Zeile hin zu Abkürzungen tendiert.
Zeichenverteilung
Ohne zu diesem Thema zu sehr in die numerischen Einzelheiten gehen zu wollen, sei noch angemerkt, dass auch die Verteilung der Zeichenhäufigkeiten von der Position des »Wortes« in der Zeile abhängig ist.
Die sieben häufigsten Glyphen der »Wörter«
- an der ersten Position sind: e, o, y, h, d, i, a;
- an der zweiten Position sind: e, o, h, y, c, k, d;
- an der mittleren Position sind: o, e, y, h, d, a, k;
- an der letzten Position sind: o, a, y, l, d, e, h.
Es zeigt sich, dass zum Ende einer Zeile hin tendenziell die Glyphen »e« und die Gruppe »ch« und »sh« seltener werden, während die Glyphen »a« und »l« in der Häufigkeit zunehmen. Macht bei den »Wörtern« zum Zeilenanfang die Glyphe »a« noch 7,2% und »l« 5,2% des Glyphenvorrates aus, so ist am Ende einer Zeile das »a« mit 12,6% und das »l« mit 9% vertreten. Auf der anderen Seite fällt die Häufigkeit der Glyphe »e« von 12,2% beim ersten »Wort« einer Zeile auf 6,6% beim letzten Wort einer Zeile ab. Der größte Teil des Glyphenvorrates ist aber beinahe invariant gegenüber der Wortposition, so dass diese Veränderungen der Zeichenhäufigkeit innerhalb einer Zeile kaum auffallen.
Wäre das »Voynichianische« eine Sprache, so hätte sie die bemerkenswerte Eigenschaft, dass beim Schreiben zusammenhängender Texte in einem Absatz innerhalb einer Zeile eine Gruppe von Vokalen immer seltener wird, während eine andere Gruppe von Vokalen immer häufiger würde, und das bei jeder geschriebenen Zeile. Es fällt schwer, sich eine menschliche Sprache mit dieser Eigenschaft vorzustellen; es fällt vergleichbar schwer, ein sinnvolles Schriftsystem zu ersinnen, das solche Auffälligkeiten hervorbringt. Könnte man die Verkürzungen der Wörter noch mit Abkürzungen wegerklären, die sich tendenziell zum Zeilenende häufen, so bleibt die Erklärung eines solchen im Schriftbild aufscheinenden Lautwandels sehr knifflig. Die Hypothese, dass das »Voynichianische« eine Sprache ist, scheint mir angesichts dieser Analyse kaum noch haltbar.
Abschließende Betrachtungen
Was bedeutet das alles? Ich weiß es nicht, noch nicht. Mir sind jetzt »nur« ein paar weitere Fakten bekannt, die bei jedem Versuch einer Entzifferung dieser mittelalterlichen Kopfnuss berücksichtigt werden müssen:
- Es handelt sich nicht um eine relativ direkt niedergeschriebene Sprache, auch keine fernöstliche. Das Voynich-Manuskript entstand in einem Prozess der Verschlüsselung.
- Bei der Verschlüsselung hat die entstehende Zeile den »Wörtern« in dieser Zeile eine nachweisbare Struktur gegeben, die möglicherweise Rückschlüsse auf das angewendete Verfahren gestattet. Die »Wörter« in der Zeile sind in einer Weise geordnet, die ich noch nicht verstehe. Da auch die Glyphen innerhalb eines »Wortes« auf eigentümliche Weise geordnet sind, scheiden einfache Zeichenersetzungen aus. (Diese wären auch schon geknackt worden.) Es handelt sich vielmehr um eine Umordnung von Informationseinheiten, die zur beobachteten Struktur führte und die hoffentlich mit einfachen Mitteln umkehrbar ist. So lange wir nicht wissen, in welcher Sprache der Klartext gehalten ist, erscheint mir das Erraten der beim Verschlüsseln angewendeten Umordnungen als kaum lösbare Aufgabe.
- Gesetzt dem Fall, es handelt sich beim Voynich-Manuskript um eine bedeutungslose Zeichenfolge, muss eine Erklärung für die darin aufscheinenden Strukturen gefunden werden. Diese sind einerseits sprachliche Strukturen, da zum Beispiel das Zipfsche Gesetz vom dokumentierten »Wortvorrat« erfüllt wird, sie sind aber andererseits außersprachliche und schwer erklärbare Strukturen.
- Wenn das »verdammte Manusskript« eine entzifferbare Mitteilung enthält, ist es die vordringlichste Aufgabe der Entzifferung, diese Strukturen zu verstehen und zu deuten. Insbesondere sollte die Anomalie des zweiten »Wortes« einer Zeile verstanden werden, denn diese liefert möglicherweise einen Hinweis auf den in der jeweiligen Zeile verwendeten Schlüssel.
Das Frustrierende in diesem ganzen Prozess besteht darin, dass das Manuskript so aussieht, als sei es ohne besondere Hilfsmittel verfasst und recht unmittelbar niedergeschrieben worden. Welches Verfahren dabei auch immer angewendet wurde, es kann nicht allzu schwierig sein. Aber es war mit Sicherheit sehr intelligent und völlig anders als die kryptografischen Standards des späten Mittelalters.
Freitag, 21. Februar 2014 13:12
[…] nur anhand der illustrzjonen ein paar wörter erraten muss, um einen fuß in die tür zu kriegen. Die ganz besonderen eigenschaften dieser mittelalterlichen kopfnuss sind dabei gar nicht erst beachtet […]