Der unmögliche Beweis
Ich gebe ja offen zu, dass ich nicht davon überzeugt bin, dass das Voynich-Manuskript eine Botschaft im üblichen Sinne des Wortes transportiert. Das Scheitern aller Bemühungen um den Klartext ließe sich sehr leicht erklären, wenn es diesen Klartext schlicht nicht gäbe. Ob das »verdammte Manuskript« dabei nun ein »Fake« eines spätmittelalterlichen Quacksalbers oder vielleicht auch etwas völlig anderes wäre, spielte nur eine untergeordnete Rolle, wenn es nur irgend möglich wäre, die Inhaltslosigkeit der Glyphenfolge nachzuweisen.
Leider – ich habe wirklich lange darüber nachgedacht, ob es nicht doch auf irgendeine Weise möglich sein könnte – ist ein solcher Nachweis völlig unmöglich. Im Rahmen eines solchen Nachweises müsste durch Ausschluss aller denkbaren Möglichkeiten überzeugend belegt werden, dass das Voynich-Manuskript keinen möglichen Text in irgendeiner bekannten oder unbekannten Sprache enthält, der mit irgendeinem Verfahren verschlüsselt wurde. Die Anzahl aller möglichen Texte ist zwar nicht unendlich groß, aber deutlich zu groß, um jeden einzelnen ausschließen zu können – zumal wir nicht einmal die Sprache des möglichen Textes kennen. Man stelle sich einmal vor, es handele sich um einen phonetisch notierten bairischen Dialekt, der wegen des engen Kontaktes des Autors zur lokalen Synagoge mit hebräischem und jiddischem Vokabular angereichert wäre, und der wg. d. Häufigk. gew. Wendgn. bei d. Niedersrft. stark, aber f. d. Autor u. and. Bet. noch verstdl. abgek. worden sei…
(Der letzte Nebensatz weist gewisse Ähnlichkeiten zu meinem oft schnell gefüllten Notizbuch auf, ist also gar nicht so absurd – allerdings schließe ich beim Notieren die Abkürzungen nicht mit Punkten ab. Vielleicht sollte ich auch in dieser Form bloggen, um Google Translations einmal eine wirklich harte Nuss zum Knacken zu geben…)
Es ist leicht nachzuweisen, dass das Manuskript einen Klartext enthält. Man gebe das Verfahren zur Verschlüsselung an, kehre es um und erhalte auf diesem Wege einen konsistenten und einer weiteren Interpretation zugänglichen Text! Zugegeben, »leicht« ist angesichts des bisherigen Scheiterns aller derartigen Versuche vielleicht etwas unpassend, aber der Versuch, die Inhaltslosigkeit des Voynich-Manuskriptes nachzuweisen, ist praktsich unmöglich, und im Vergleich dazu erscheint eine Lösung des Rätsels als leicht – so es eine Lösung gibt.
Dass es Gordon Rugg gelungen ist, mit einem vergleichsweise einfachen Verfahren sinnlosen Text zu erzeugen, der entsprechend niedergeschrieben eine gewisse Ähnlichkeit zur Erscheinung des Voynich-Manuskriptes aufweist, belegt nicht, dass das Voynich-Manuskript nur eine sinnlose Folge von Glyphen enthält, sondern nur, dass es eine sinnlose Folge von Glyphen enthalten könnte. In meinen Augen ist das weder eine neue Erkenntnis gewesen (obwohl sich jeder immer darüber klar sein sollte, dass alle Mühe um den Klartext vergebens sein könnte), noch schafft dieses »Ergebnis« genügend tiefe Einsicht, dass es etwas reißerisch als »Lösung« im Scientific American präsentiert werden sollte – zumal ein dort veröffentlichter Artikel für viele naivere Leser (etwa für viele Redakteure in den Wissenschaftsressorts der großen Tageszeitungen und Zeitschriften, und damit folgend auch für die Leser dieser Publikationen) recht unreflektiert zu einer »Wahrheit« wird.
Eines aber ist wahr: Das »verdammte Manuskript« bietet einem Wissenschaftler nur wenig Aussicht auf Erfolg, warnt ihm zusätzlich durch eine lange Reihe kritischer Köpfe, die sich unvorstellbar in absurde Theorien verrannt haben und verspricht zudem, von eher uninteressantem Inhalt zu sein. Auf diesem Hintergrund ist es gar nicht erstaunlich, dass kaum jemand seine beschränkte Lebenszeit für ein Abenteuer aufs Spiel setzen möchte, das sich als Hemmschuh für die eigene Karriere erweisen könnte. Das Hinwegerklären des Manuskriptes als inhaltlose Zeichenfolge scheint auf diesem Hintergrund sehr attraktiv zu sein.
Und wie schon eingangs gesagt: Ich bin selbst nicht davon überzeugt, dass das Manuskript einen »Klartext« im gewöhnlichen Sinne des Wortes transportiert. Ich sehe einfach nur keine Möglichkeiten, die Nichtexistenz eines Klartextes nachzuweisen – und ich habe wirklich darüber nachgedacht.
Meine Auffassung ist allerdings nicht, dass es sich um einen »Fake« gehandelt habe, der in betrügerischer Absicht angefertigt wurde. Für diese Auffassung habe ich ein durchaus vernünftig klingendes Argument, zumindest für mich selbst: Der Aufwand mit dem auffallend konsistenten Schriftsystem und einem erzeugten Text, der auch noch im Computerzeitalter jeden damit beschäftigten Menschen wegen seiner Mischung aus strikter Struktur und überraschender Unregelmäßigkeit verwirren kann; dieser Aufwand war außerordentlich hoch, sehr viel höher als für den Betrug erforderlich. Um jemanden mit einem »Fake« zu beeindrucken und ihm anschließend einen Haufen Goldmünzen aus der Tasche zu ziehen, wäre ein »Gekrakel« mit wesentlich weniger Struktur – verbunden mit Aufsehen erregenden, geradezu außerweltlichen Zeichnungen und einer hübschen Lügengeschichte dazu – völlig hinreichend gewesen. Warum sollte sich ein Betrüger denn unnötige Arbeit machen?
Wer eine gut sortierte Bücherei in seiner Nähe hat, werfe einmal einen Blick in den »Codex Seraphinianus«, der ein völlig sinnloses Buch (und ein großartiges Kunstwerk) ist. Luigi Serafini hat sich für dieses Werk ein bemerkenswert natürlich aussehendes Schriftsystem ausgedacht…
…das den Betrachter schnell überzeugt; er hat sich ferner eine interessante Notation für Zahlen ausgedacht, die stark strukturiert und verständlich ist. Allerdings ist dieses optisch so überzeugende Schriftsystem bei weitem nicht so konsistent wie das Schriftsystem des Voynich-Manuskriptes und zeigt über den Verlauf des Buches hinweg starke Schwankungen im Aufbau der Wörter und in der Häufigkeit der Zeichen, die sich nicht in unserem »verdammten Manuskript« finden. Es ist ja gerade das hohe Maß an erkennbarer Struktur im Manuskriptes, das verblüfft.
Ich bin der Meinung, dass das größte Problem bei der Beschäftigung mit dem Voynich-Manuskript darin besteht, dass man sich nicht genügend über seine eigenen Annahmen klar ist, die dann aber der Wahrnehmung des Manuskriptes ihren Stempel aufdrücken.
Zum Beispiel habe ich bei vielen Forschern den Eindruck, dass sie in allen ihren Betrachtungen unbewusst davon ausgingen, bei der Abfassung des Voynich-Manuskriptes hätten Aberglaube, Wahnsinn oder die Benutzung halluzinogener Drogen keine Rolle gespielt. Diese Annahme mag in einem nüchternen, kritischen Weltbild begründet sein, sie wird aber durch die Erscheinung des Manuskriptes als ein unverständliches, singuläres Werk nicht unterstützt. Ganz im Gegenteil wirken zumindest die Illustrationen als rein geistige, fantastische Hervorbringungen ohne starken Bezug zur wirklichen Welt, die sich zwanglos als Ausfluss eines sehr seltsam tickenden Verstandes erklären ließen. Vor allem die Pflanzen werden niemals in dieser Form auf der Erde gewachsen sein, und die Zeichnungen im biologischen Teil zeigen zwar ein beachtliches Maß an künstlerischer Genialität (und wirken verblüffend modern), aber sind dabei so surreal, dass eine Interpretation kaum möglich ist. Wie man bei so wenig »irdischem Bezug« noch davon ausgehen kann, dass der Text mehr »irdischen Bezug« habe, erscheint mir beinahe so rätselhaft wie das Manuskript selbst.
Deshalb bin ich nach wie vor der Meinung, dass das gesamte Manuskript auch in einem rein psychologischen Prozess entstanden sein könnte, vielleicht vergleichbar zur Glossolalie. Die Strukturen des »Textes« könnten vielleicht auch auf diese Weise entstehen, und es ist gar nicht gesagt, dass der Autor sein Schreiben für »sinnlos« hielt. Er kann es sogar für eine gewaltige Offenbarung gehalten haben.
Aber wie lässt sich so etwas nur belegen? (Immerhin, es scheint mir nicht völlig aussichtslos. Vermutlich bin ich einfach der völlig falsche Mensch für ein solches Ansinnen.)
Freitag, 13. November 2009 0:27
Ich denke auch, daß wir so niemals eine Lösung finden werden. Nicht mit Computern, nicht durch längeres und genaueres Hinsehen, nicht durch mehr Intelligenz etc…
Was mir aber so komplett fehlt, ist auch der historische Background. Selbst da fehlt es an Informationen. Die Uni, in der das Skript jetzt liegt, verweigert eine Analyse, die schonmal eine zeitliche Einordnung möglich machen würde. Das andere wäre, einmal in das Kloster (war das in Italien?) zu gehen, in dem das Buch ja lange gelegen haben soll. Dort müßte man einmal die Menschen interviewen. Es müßte irgendein Wissen über das Buch geben. Oder ein ähnliches Buch. Oder einen Eintrag in einer Liste mit Büchern der Bibliothek dort. Oder gar nichts. Dann vermute ich tatsächlich eine aufwändige Fälschung (dafür sprechen auch die geringen Korrekturen im Text) – möglicherweise durch einen gelangweilten Herrn Voynich, der einmal berühmt werden wollte und es jetzt auch ist. – Ein früher Popolski oder Kerkeling. Isch kandidiere, Schätzelein. Der Wolf, das Lamm – hurz! 😉
Freitag, 13. November 2009 2:24
Wenn Yale wenigstens so nett wäre, mal einige besonders interessante Seiten (die, in denen Spuren von Löschungen sichtbar sind, vor allem die erste und letzte) unter UV-Licht zu fotografieren…
Freitag, 13. November 2009 15:06
Danke für diesen Text – ich habe mir in letzter Zeit ähnliche Gedanken gemacht, wie eine Annäherung an eine Antwort auf die Frage nach der Sinnhaltigkeit des Textes aussehen könnte. Wenn er keinen Sinn hat, möchte man sich schließlich auch nicht so viel damit beschäftigt haben.
Sicher ist ja, dass der Text von einem Menschen ›verfasst‹ wurde, also muss er – wenn er einen Sinn hat – für Menschen auch wieder verstehbar sein.
Generell kann man sagen: Ein sinnloser Text ist gewissermaßen in sich abgeschlossen, er ist ein einmaliges Ereignis, dass nun so daliegt, nicht verstanden werden kann und gleichsam ›tot‹ ist, er ist eine Müllhalde von Schriftzeichen, vielleicht durch Wind und Wetter (Erzeugungsmechanismen) mit einer Struktur versehen. Ein sinnvoller Text dagegen muss in einer (irgendeiner) (Kunst-) Sprache geschrieben sein, die alle Strukturen besitzt, die eine Sprache braucht, um verstehbar zu sein. Man muss in dieser Sprache also ALLES ausdrücken können, und nicht nur das, was konkret im VM steht. Sie müsste universell verwendbar und sie müsste erlernbar sein.
Vielleicht ist es es wert, den Versuch zu machen, diese Sprache zu erlernen – unabhängig davon, ob man ihre Vokabeln jetzt schon kennt. Die Vokabeln werden vielleicht ihre Bedeutungen finden, wenn man fähig ist, sauberes ›Voynichesisch‹ zu sprechen, das allen formellen Vorgaben des Manuskriptes genügt – und dabei welthaltig ist. Ungefähr: Erzähle mir deinen Tag auf Voynichesisch, dann wirst du auch das Buch lesen können.
Leider ist das Scheitern der Bemühungen, diese etwaige Sprache zu erlernen, noch kein Beweis dafür, dass es unmöglich ist. Zumindest nicht, wenn z. B. ich daran scheitern würde. Ich musste dann gleich an Daniel Tammet denken. Daniel Tammet war vor einiger Zeit in der Presse, als er – begleitet vom isländischen Fernsehen – ohne Vorwissen und zum Entsetzen der Isländer innerhalb von zwei Wochen oder so die isländische Sprache gelernt hat, die als äußerst schwierig gilt. Am Ende hat er ein Fernsehinterview auf Isländisch gegeben und angeblich sogar ein paar Wortwitze gemacht. Er tut das häufiger, man kann viel über ihn im Internet lesen. Kann er nicht einmal das Manuskript durchlesen? Wenn von ihm die Aussage käme, dass dies keine Sprache ist, würde mir das wahrscheinlich genügen.
Freitag, 13. November 2009 21:57
Kai: Das ist natürlich auch eine interessante Idee; wenn es /ein/ Manuskript dieser Art gibt, gibt es vielleicht auch mehrere?
Samstag, 14. November 2009 12:39
Der einzige Beweis, den ich mir vorestellen könnte, dass das MS keinen
Sinn erhält, ist, wenn man eine Methode finden würde, einen Tekst
herzustellen mit genau den gleichen Eigenschaften. Die oberflächliche
Ählichkeit der Produtke von GOrdon Rugg reichen da noch nicht.
Zur Bibliothek (Beinecke): wie Mitte dieses Jahres bekannt wurde, sind
inzwischen wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführr worden.
Die Ergebnisse werden schon bald bekannt gemacht werden
(voraussichtlich Mitte Dezember bei ORF-2).
UV Beleuchtungen der ersten Seite dürften da auch gezeigt werden.
Samstag, 14. November 2009 17:01
@ Rene Zandbergen
Aber das ist leider unmöglich, denn wo will man die Grenze ziehen? Wir kennen einige Eigenschaften des Textes, aber sind das alle? Welche weiteren Eigenschaften sind noch unentdeckt? Da wird es immer Diskussion und Hickhack geben, denn der einzige Text mit haargenau den gleichen Eigenschaften wie das Manuskript ist eben nur das Manuskript selbst, bzw. sein Wortlaut. Ohne es zu verstehen, können wir auch nicht entscheiden, welche seiner Eigenschaften wesentlich und welche nebensächlich sind, und ohne das zu wissen, können wir auch keinen Text mit ›den gleichen Eigenschaften‹ erzeugen, der auch nur eine Glyphe vom Original abweicht – denn jede Abweichung könnte mit einer noch unentdeckten Regel brechen. Und ein nur ›ähnlich aussehender‹, sinnloser Text wie der von Gordon Rugg reicht als Beweis eben nicht aus, auch nicht, wenn er noch ein bisschen ähnlicher aussieht.
Montag, 16. November 2009 11:39
Ich möchte eure Aufmerksamkeit auf die tolle Ausstellung »Astrum 2009″ zu Ehren Galileo Galileis in den Vatikanischen Museen http://mv.vatican.va/3_EN/pages/z-Info/MV_Info_Eventi.html empfehlen: wenn ihr bis Februar zufällig in Rom seid, sehr sehenswert.
Die Teleskope Galileis Zeit ähneln verblüffend den »tubes«, und auch Athanasius Kirchner kommt in der Ausstellung vor.
Die Ausstellung wird zwar sicher nicht unmittelbar zur Lösung des Manuskripts verhelfen, aber sich in jene Zeit, insbesondere in die Zeit der damaligen Wissenschaft und Halbwissenschaft einzuleben, ist es allemal mehr als geeignet. Ich bin überzeugt, dass man nur mit einem Gefühl für das Umfeld und Zeit in dem das Manuskript entstand, es verstanden werden kann.
Mittwoch, 18. November 2009 4:41
@casual reader:
Ein Verständnis für Zeit und Umfeld der Entstehung ist vermutlich eine notwendige, aber wahrscheinlich keine hinreichende Bedingung. 😉