Wie sich eine Theorie bildet

Ich habe vor einigen Tagen eine Mail mit einer in meinen Augen sehr berechtigten Anfrage erhalten. Ein Leser dieses Blogs fragte mich, wie ich auf die von mir postulierten »harmonischen« Gesetze gekommen wäre. Das ist eine völlig berechtigte Frage, bei der mir sofort aufgefallen ist, dass ich diesen wichtigen Teil meiner Theoriebildung vollständig unterschlagen habe. Es ist gewiss hilfreicher, wenn nicht nur Erkenntnisse publiziert werden, sondern auch der oft sehr steinige Weg, der zu diesen Erkenntnissen geführt hat.

Das erste Mal kam ich auf eine derartige Idee, als ich mich im Jahre 2005 von der Arbeit an den Transkriptionen abwandte und mir die verfügbaren Bilder des Manuskriptes sehr genau anschaute. Ich empfand das »Glyphenzählen« immer mehr als eine Sackgasse, auf der zwar viele Eigenschaften des »Textes« deutlich werden, sich aber nicht zu einem Muster fügen, das Licht auf den Inhalt des »Textes« werfen könnte. Weder gelang es mir, Wortarten zu identifizieren (was nicht verwunderlich wäre, wenn der »Text« in chinesischer Sprache geschrieben sein sollte), noch gelang mir die sichere Identifikation von Vokalen und Konsonanten (aber sehr wohl ein paar Anhaltspunkte, die jedoch zu viele unaussprechliche »Wörter« entstehen ließen), noch fand ich einen möglichen Grund für die merkwürdig geringe Redundanz der Glyphenfolge. Es gibt nicht einmal häufige »Wörter«, die auf bestimmte sprachliche Muster oder Phrasen der Sprache des »Textes« hingedeutet hätten; also keine Fragephrasen wie »Qu‹est-ce que« oder allgemeine Bestandteile der Sprache wie »Ce sont des«.

(Französisch dient mir hier nur deshalb als Beispiel, weil es sehr reich an solchen sprachlichen Mustern ist, während Deutsch sehr viel variabler in der Wortstellung und in den typischen Ausdrucksformen ist. Ich glaube nicht daran, dass die Sprache des möglichen Klartextes Französisch ist, kann es aber natürlich auch nicht ausschließen.)

Dies alles stellte ich fest, als ich mich mit einer Zeichenfolge beschäftigte, die ganz offenbar nicht stark verschlüsselt sein kann, die sogar viele Merkmale einer Sprache aufweist, die bei einer starken Verschlüsselung verschwänden. Es war wie verhext, und ich fand mich bei meiner Beschäftigung mit dem Manuskript in zunehmender Frustration wieder. Der »Text« des Manuskriptes ergab keinen Sinn, und immer mehr empfand ich das ganze Buch als etwas, was gar nicht existieren dürfte.

Deshalb wandte ich mich dem zu, was unzweifelhaft vorhanden ist und in der Beinecke-Bibliothek der Universität zu Yale herumliegt und immer noch auf einen wartet, der es lesen könnte: Dem Manuskript in seiner gebieterischen Existenz und seiner unmittelbaren Erscheinung. Ich fing immer mehr damit an, mich mit dem hervorragenden Bildmaterial des Manuskriptes zu beschäftigen und dieses von Neuem auf mich wirken zu lassen.

Dabei fiel mir eine Eigenschaft des Schriftsystemes auf, die so offensichtlich ist, dass man sie leicht übersehen kann. Hier als Beispiel ein kontrastverstärkter Ausschnitt der Seite 85r1, der so weit verkleinert ist, dass sich der Blick von den vielen, verwirrenden Details abwendet und so das Gesamtbild des Schriftsystemes besser aufnimmt:

Ein Ausschnitt der Seite 85r

Was hier (und auf jeder anderen Seite des Manuskriptes) deutlich wird, das sind zwei Erscheinungen, die in dieser Kombination unerwartet sind. Zum Einen wurde beim Schreiben des Manuskriptes sehr schnell und deshalb auch unsauber vorgegangen; der Schreiber hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, mit einem Lineal ein paar Linien vorzuzeichnen. Zum Anderen aber wirkt die Glyphenfolge selbst in der Schlampigkeit dieses Schreibens noch sehr geschwungen, ausgewogen, ästhetisch ansprechend.

Das verwendete Schriftsystem erzeugt also ein »schönes« Schriftbild, so mein Fehlschluss.

Es war ein Fehlschluss. Es ist völlig ausreichend, einen beliebigen Text in einer beliebigen Sprache mit dem Zeichensatz EVA Hand 1 zu setzen, um zu sehen, dass der ästhetisch ansprechende Eindruck seine Ursache nicht nur im verwendeten Schriftsystem hat:

Dieser Text ist ein Beispiel dafür, dass das Schriftsystem an sich nicht zum harmonischen Eindruck des Manuskriptes führt

Die gesamte, im Manuskript sehr ausgewogene Wirkung des Schriftsystemes wird also zerstört, wenn im gleichen Schriftsystem andere Zeichenfolgen gesetzt werden. Tatsächlich ist das Ergebnis sogar ausgesprochen hässlich, wenn man es mit typischem Voynich-Text vergleicht:

Ein Auszug aus dem Text der Seite 10r, die Zeilenumbrüche stimmen nicht

Der Beispieltext wurde (recht willkürlich) der Seite 10r gemäß der Transkription von Takeshi Takahashi entnommen, die Zeilenumbrüche spiegeln nicht den Stand des Manuskriptes wider. Der ästhetische Unterschied zwischen den beiden Beispielen sollte jedem Menschen unmittelbar auffallen, der auch nur flüchtig hinschaut.

Es gibt also eine Verbindung zwischen dem verwendeten System von Schriftzeichen und dem verwendeten System der Verschlüsselung oder der zugrunde liegenden Sprache. Die Glyphen sind so entworfen, dass der notierte »Text« ästhetisch ansprechend wird, und dies ist gewiss kein Zufall, sondern eine Absicht des Autors. Bei einem Schreiber, der in seinen Niederschriften sonst so wenig Wert auf das Erscheinungsbild legt, überrascht so eine Einsicht. Und sie reizt dazu, dass man diese Eigenschaft des Manusskriptes etwas genauer untersucht, um sie besser zu verstehen.

Auf diesem Weg kam ich zu meinen »harmonischen« Gesetzen für die Glyphenfolge, und diese Gesetze werden von 92 Prozent der »Wörter« im Manuskript erfüllt. Es ist eine weitere Eigenschaft des Textes, die einer Erklärung bedarf – und sei es einfach nur die Erklärung, dass der Wechsel zwischen den i-Glypen und den o-Glyphen eine Bedeutung trägt und dass es sich um zwei alternative, in ihrem Kern gleichermaßen für den Text geeignete Systeme der Niederschrift handele. Der effektive Glyphenvorrat würde sich so nochmals halbieren, ein Großteil des »Textes« bildete sich aus lediglich 10 unterschiedlichen Zeichen. Das einzelne EVA-Zeichen könnte dann nur noch ungefähr 3 Bit Information enthalten; und da viele EVA-Glyphen wohl nur als Bestandteile komplexer aufgebauter Symbole zu betrachten sind, müsste die Redundanz gar noch etwas größer werden. In der Tat deckt sich diese Vermutung gut mit der tatsächlich beobachtbaren Redundanz der Glyphenfolge.

An den harmonischen Gesetzen ist also noch vieles zu erkunden. Bislang habe ich noch keinen Erfolg versprechenden Ansatz gefunden, aber das Verlassen einer Sackgasse durch die Betrachtung des richtigen Manuskriptes war für mich sehr fühlbar.

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Datum: Freitag, 3. Oktober 2008 21:08
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