Eine Abschrift?

Eine Frage, die immer wieder einmal aufkommt, ist diese: »Handelt es sich beim Voynich-Manuskript um das Original oder um eine Abschrift?«

Natürlich ist jede Antwort auf diese Frage spekulativ, so begründet sie auch klingen mag. Zu wenig ist über das Manuskript bekannt. Es gibt gute Gründe, warum es sich wahrscheinlich um eine Abschrift handelt, und es gibt ebenso gute Gründe, warum diese guten Gründe im speziellen Fall des Voynich-Manuskriptes möglicherweise nicht zutreffen. Diese kleine Darlegung ist nicht vollständig und schnell geschrieben, aber sie zeigt die wichtigsten, mit dieser Frage verbundenen Probleme auf.

Zunächst einmal ein ganz einfaches Argument: Wenn es ein Original gibt, von dem abgeschrieben wurde, und wenn später wiederum von den Abschriften weitere Abschriften hergestellt wurden, denn wurden sehr viel mehr Abschriften als »Originale« hergestellt. Manuskripte unterliegen aber genau dem gleichen Zerfall wie alle anderen kulturellen Güter; sie können verbrennen, bewusst zerstört werden, verloren gehen oder einfach im Laufe der Zeit auseinanderfallen. Kriege, religiöse Verfolgungen und andere Ausbrüche der Barbarei hat es in der Zeit zwischen 1450 bis heute in ganz Europa genug gegeben, so dass man sich sicher sein kann, dass ein Großteil der damaligen kulturellen Güter in irgend einer Weise zerstört wurde, gleich, wie viel Mühe auch für den Erhalt dieser Güter aufgewendet wurde. Die Anzahl der bis heute erhaltenen Manuskripte aus dem Mittelalter ist wesentlich kleiner als die Anzahl der im Mittelalter angefertigten Manuskripte. Die meisten Manuskripte sind uns folglich nicht als Original, sondern als Abschriften erhalten geblieben.

Nebenbei gesagt: Wichtige Dokumente unserer Kultur liegen uns nur in Abschriften vor, die zudem oft kleine inhaltliche Abweichungen voneinander haben. Es existiert zum Beispiel keine einzige Originalschrift irgendeiner biblischen Textstelle. Die Annäherung an den ursprünglichen Text der Bibel ist eine schier endlose Beschäftigung für einige sehr spezialisierte Wissenschaftler, die schon sehr viel Denkarbeit erfordert hat. Zum Glück liegen viele alte Quellen des biblischen Textes vor, so dass eine gut begründete Textkritik Beachtliches geleistet hat – die Abweichungen des rekonstruierten Textes von dem Textstand der Qumran-Rollen sind nur marginal. Das erweckt Glauben in die Vernunft der angewandten Methodik. (Der Apostel Paulus meinte allerdings zu den buchstabentreuen Theologen seiner Zeit: »Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig«.)

Der etwas zu schnelle Schluss aus dem »einfachen Argument« lautet so: Das Voynich-Manuskript ist ein Manuskript (das ist sehr einfach zu erkennen) und die meisten Manuskripte sind uns nur als Abschrift erhalten geblieben, also ist das Voynich-Manuskript wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Abschrift.

Es gibt allerdings einige Beobachtungen am Manuskript, die diesem schnellen Schluss widersprechen. Das beachtlichste Argument gegen die Annahme einer Abschrift sind die beiden »Currier-Sprachen« A und B.

Es handelt sich hier nicht um »Sprachen« im normalen Sinne des Wortes, da uns die Sprache des Manuskriptes unbekannt ist. Aber es handelt sich um nachweisbare und sehr klare statistische Unterschiede in der Struktur der Glyphenfolge in gewissen, zusammenhängenden Bereichen des Manuskriptes. Diese gehen immer mit einem zweiten Merkmal einher, nämlich mit zwei verschiedenen Handschriften, die klar und ausnahmslos den beiden »Currier-Sprachen« entsprechen. (Allerdings ist die Erkennung der Handschriften nicht so sicher wie die Erkennung der »Sprachen«, sie ist aber an vielen Stellen deutlich genug.) Die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, dass das vorliegende Manuskript das Werk (mindestens) zweier Schreiber ist, wirkt gut begründet und logisch. Vielleicht ist es eine der ganz wenigen konkreten Aussagen, die überhaupt zu diesem Manuskript gemacht werden kann.

Es ist nun aber sehr unwahrscheinlich, dass eine solche Übereinstimmung zwischen verschiedenen, durch statistische Analyse messbaren Strukturen in der Glyphenfolge und verschiednen, durch Augenschein erkennbaren Handschriften bei einer Abschrift erhalten bliebe.

Und deshalb sind die Ergebnisse Curriers ein Hinweis darauf, dass es sich beim vorliegenden Voynich-Manuskript um ein Original handelt.

Aber auch dieser Hinweis ist nicht so sicher, dass er keinen Zweifel mehr zuließe. Es ist ja durchaus möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, dass eine Abschrift von Menschen angefertigt wurde, die den »Text« des Manuskriptes auch lesen konnten. Wenn es sich wirklich um zwei verschiedene Sprachen oder Dialekte handelt, dann würde natürlich jeder Kopist seine eigene Sprache oder seinen eigenen Dialekt abschreiben, und es käme wieder zur Deckung einer statistisch erfassbaren Struktur mit einer Handschrift. Allerdings würde ich in diesem Fall viel darum geben, diese beiden »Dialekte« mit ihrer extremen Redundanz einmal zu hören – es erscheint mir geradezu unmöglich, dass gleich zwei ausgestorbene und sonst nirgends dokumentierte Sprachen nur in diesem einen Manuskript überliefert worden sein sollen.

Wie so viele andere Fragen lässt sich auch die Frage, ob das Voynich-Manuskript ein Original oder eine Abschrift ist, viel leichter stellen als vernünftig beantworten. Ich persönlich bin des Glaubens, dass wir das Original des Manuskriptes vorliegen haben.

Beim Versuch, das Manuskript zu lesen, hätte ein Original-Manuskript zwei Vorteile: Wir müssten nicht auch noch darüber spekulieren, wo ein unverständiger Kopist möglicherweise ein paar Fehler gemacht hat; und wenn uns eine Altersbestimmung des Manuskriptes gelingt, würde diese auch dem Alter des darin geschriebenen »Textes« entsprechen. Beides kann für das Verständnis des »Textes« hilfreich sein.

Auch ein ganz kleines Indiz am Rande spricht dafür, dass es sich um das Original-Manuskript handelt. Das Voynich-Manuskript weist Spuren verschiedener Restaurationen in der Vergangenheit auf. Auf einigen hochauflösenden Bildern des Manuskriptes lassen sich klar drei verschiedene Schichten von Tinte ausmachen, wobei die unterste Schicht, die mutmaßliche Originaltinte (vor allem in der Tierkreis-Sektion) stark verblichen ist. Die beiden anderen Tinten sind die Spuren zweier späterer Versuche, den verbleichenden »Text« des Manuskriptes mit frischer Tinte nachzuziehen und so zu erhalten.

Jemand muss diese Restaurationen durchgeführt haben.

Wer immer dieser Jemand war, er ist offenbar nicht auf die Idee gekommen, den Text des Manuskriptes zu erhalten, indem er eine Kopie des Manuskriptes anfertigt oder anfertigen lässt. Schon zu diesem Zeitpunkt war das Manuskript offenbar so unverständlich, dass ein Kopierversuch fehlerträchtig gewesen wäre. Vielleicht wurde aber auch das vorliegende Original-Manuskript bereits als besonders wertvolles Werk angesehen. Von der Anfertigung einer »schlechten« Kopie wurde jedenfalls abgesehen.

Ach, wenn wir doch nur mehr wüssten!

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Datum: Dienstag, 19. Dezember 2006 3:35
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