Donnerstag, 12. November 2009 23:06
Ich gebe ja offen zu, dass ich nicht davon überzeugt bin, dass das Voynich-Manuskript eine Botschaft im üblichen Sinne des Wortes transportiert. Das Scheitern aller Bemühungen um den Klartext ließe sich sehr leicht erklären, wenn es diesen Klartext schlicht nicht gäbe. Ob das »verdammte Manuskript« dabei nun ein »Fake« eines spätmittelalterlichen Quacksalbers oder vielleicht auch etwas völlig anderes wäre, spielte nur eine untergeordnete Rolle, wenn es nur irgend möglich wäre, die Inhaltslosigkeit der Glyphenfolge nachzuweisen.
Leider – ich habe wirklich lange darüber nachgedacht, ob es nicht doch auf irgendeine Weise möglich sein könnte – ist ein solcher Nachweis völlig unmöglich. Im Rahmen eines solchen Nachweises müsste durch Ausschluss aller denkbaren Möglichkeiten überzeugend belegt werden, dass das Voynich-Manuskript keinen möglichen Text in irgendeiner bekannten oder unbekannten Sprache enthält, der mit irgendeinem Verfahren verschlüsselt wurde. Die Anzahl aller möglichen Texte ist zwar nicht unendlich groß, aber deutlich zu groß, um jeden einzelnen ausschließen zu können – zumal wir nicht einmal die Sprache des möglichen Textes kennen. Man stelle sich einmal vor, es handele sich um einen phonetisch notierten bairischen Dialekt, der wegen des engen Kontaktes des Autors zur lokalen Synagoge mit hebräischem und jiddischem Vokabular angereichert wäre, und der wg. d. Häufigk. gew. Wendgn. bei d. Niedersrft. stark, aber f. d. Autor u. and. Bet. noch verstdl. abgek. worden sei…
(Der letzte Nebensatz weist gewisse Ähnlichkeiten zu meinem oft schnell gefüllten Notizbuch auf, ist also gar nicht so absurd – allerdings schließe ich beim Notieren die Abkürzungen nicht mit Punkten ab. Vielleicht sollte ich auch in dieser Form bloggen, um Google Translations einmal eine wirklich harte Nuss zum Knacken zu geben…)
Es ist leicht nachzuweisen, dass das Manuskript einen Klartext enthält. Man gebe das Verfahren zur Verschlüsselung an, kehre es um und erhalte auf diesem Wege einen konsistenten und einer weiteren Interpretation zugänglichen Text! Zugegeben, »leicht« ist angesichts des bisherigen Scheiterns aller derartigen Versuche vielleicht etwas unpassend, aber der Versuch, die Inhaltslosigkeit des Voynich-Manuskriptes nachzuweisen, ist praktsich unmöglich, und im Vergleich dazu erscheint eine Lösung des Rätsels als leicht – so es eine Lösung gibt.
Dass es Gordon Rugg gelungen ist, mit einem vergleichsweise einfachen Verfahren sinnlosen Text zu erzeugen, der entsprechend niedergeschrieben eine gewisse Ähnlichkeit zur Erscheinung des Voynich-Manuskriptes aufweist, belegt nicht, dass das Voynich-Manuskript nur eine sinnlose Folge von Glyphen enthält, sondern nur, dass es eine sinnlose Folge von Glyphen enthalten könnte. In meinen Augen ist das weder eine neue Erkenntnis gewesen (obwohl sich jeder immer darüber klar sein sollte, dass alle Mühe um den Klartext vergebens sein könnte), noch schafft dieses »Ergebnis« genügend tiefe Einsicht, dass es etwas reißerisch als »Lösung« im Scientific American präsentiert werden sollte – zumal ein dort veröffentlichter Artikel für viele naivere Leser (etwa für viele Redakteure in den Wissenschaftsressorts der großen Tageszeitungen und Zeitschriften, und damit folgend auch für die Leser dieser Publikationen) recht unreflektiert zu einer »Wahrheit« wird.
Eines aber ist wahr: Das »verdammte Manuskript« bietet einem Wissenschaftler nur wenig Aussicht auf Erfolg, warnt ihm zusätzlich durch eine lange Reihe kritischer Köpfe, die sich unvorstellbar in absurde Theorien verrannt haben und verspricht zudem, von eher uninteressantem Inhalt zu sein. Auf diesem Hintergrund ist es gar nicht erstaunlich, dass kaum jemand seine beschränkte Lebenszeit für ein Abenteuer aufs Spiel setzen möchte, das sich als Hemmschuh für die eigene Karriere erweisen könnte. Das Hinwegerklären des Manuskriptes als inhaltlose Zeichenfolge scheint auf diesem Hintergrund sehr attraktiv zu sein.
Und wie schon eingangs gesagt: Ich bin selbst nicht davon überzeugt, dass das Manuskript einen »Klartext« im gewöhnlichen Sinne des Wortes transportiert. Ich sehe einfach nur keine Möglichkeiten, die Nichtexistenz eines Klartextes nachzuweisen – und ich habe wirklich darüber nachgedacht.
Meine Auffassung ist allerdings nicht, dass es sich um einen »Fake« gehandelt habe, der in betrügerischer Absicht angefertigt wurde. Für diese Auffassung habe ich ein durchaus vernünftig klingendes Argument, zumindest für mich selbst: Der Aufwand mit dem auffallend konsistenten Schriftsystem und einem erzeugten Text, der auch noch im Computerzeitalter jeden damit beschäftigten Menschen wegen seiner Mischung aus strikter Struktur und überraschender Unregelmäßigkeit verwirren kann; dieser Aufwand war außerordentlich hoch, sehr viel höher als für den Betrug erforderlich. Um jemanden mit einem »Fake« zu beeindrucken und ihm anschließend einen Haufen Goldmünzen aus der Tasche zu ziehen, wäre ein »Gekrakel« mit wesentlich weniger Struktur – verbunden mit Aufsehen erregenden, geradezu außerweltlichen Zeichnungen und einer hübschen Lügengeschichte dazu – völlig hinreichend gewesen. Warum sollte sich ein Betrüger denn unnötige Arbeit machen?
Wer eine gut sortierte Bücherei in seiner Nähe hat, werfe einmal einen Blick in den »Codex Seraphinianus«, der ein völlig sinnloses Buch (und ein großartiges Kunstwerk) ist. Luigi Serafini hat sich für dieses Werk ein bemerkenswert natürlich aussehendes Schriftsystem ausgedacht…
…das den Betrachter schnell überzeugt; er hat sich ferner eine interessante Notation für Zahlen ausgedacht, die stark strukturiert und verständlich ist. Allerdings ist dieses optisch so überzeugende Schriftsystem bei weitem nicht so konsistent wie das Schriftsystem des Voynich-Manuskriptes und zeigt über den Verlauf des Buches hinweg starke Schwankungen im Aufbau der Wörter und in der Häufigkeit der Zeichen, die sich nicht in unserem »verdammten Manuskript« finden. Es ist ja gerade das hohe Maß an erkennbarer Struktur im Manuskriptes, das verblüfft.
Ich bin der Meinung, dass das größte Problem bei der Beschäftigung mit dem Voynich-Manuskript darin besteht, dass man sich nicht genügend über seine eigenen Annahmen klar ist, die dann aber der Wahrnehmung des Manuskriptes ihren Stempel aufdrücken.
Zum Beispiel habe ich bei vielen Forschern den Eindruck, dass sie in allen ihren Betrachtungen unbewusst davon ausgingen, bei der Abfassung des Voynich-Manuskriptes hätten Aberglaube, Wahnsinn oder die Benutzung halluzinogener Drogen keine Rolle gespielt. Diese Annahme mag in einem nüchternen, kritischen Weltbild begründet sein, sie wird aber durch die Erscheinung des Manuskriptes als ein unverständliches, singuläres Werk nicht unterstützt. Ganz im Gegenteil wirken zumindest die Illustrationen als rein geistige, fantastische Hervorbringungen ohne starken Bezug zur wirklichen Welt, die sich zwanglos als Ausfluss eines sehr seltsam tickenden Verstandes erklären ließen. Vor allem die Pflanzen werden niemals in dieser Form auf der Erde gewachsen sein, und die Zeichnungen im biologischen Teil zeigen zwar ein beachtliches Maß an künstlerischer Genialität (und wirken verblüffend modern), aber sind dabei so surreal, dass eine Interpretation kaum möglich ist. Wie man bei so wenig »irdischem Bezug« noch davon ausgehen kann, dass der Text mehr »irdischen Bezug« habe, erscheint mir beinahe so rätselhaft wie das Manuskript selbst.
Deshalb bin ich nach wie vor der Meinung, dass das gesamte Manuskript auch in einem rein psychologischen Prozess entstanden sein könnte, vielleicht vergleichbar zur Glossolalie. Die Strukturen des »Textes« könnten vielleicht auch auf diese Weise entstehen, und es ist gar nicht gesagt, dass der Autor sein Schreiben für »sinnlos« hielt. Er kann es sogar für eine gewaltige Offenbarung gehalten haben.
Aber wie lässt sich so etwas nur belegen? (Immerhin, es scheint mir nicht völlig aussichtslos. Vermutlich bin ich einfach der völlig falsche Mensch für ein solches Ansinnen.)