Beiträge vom 4. August 2009

Anagramme

Dienstag, 4. August 2009 3:27

Der »Text« des Voynich-Manuskriptes ist auf eigenwillige Weise innerhalb der Zeilen und innerhalb der Seiten geordnet, und die zu »Wörtern« geformten Glyphen haben eine starke Tendenz, ebenfalls in einer bestimmten Reihenfolge aufzutreten. Wie jede andere Erscheinung im Manuskripte ist auch diese Erscheinung nicht ohne Ausnahmen (die Glyphen* »a«, »o« und »y« können zum Beispiel beinahe beliebig in den Wörtern aufscheinen), doch bei einer Auswertung größerer Textmengen leicht überprüfbar.

Voynichianisch ist keine Sprache

Es gibt meines Wissens keine Sprache, welche die Eigenschaft hätte, die Phoneme ihrer Wörter in eine so strikte Reihenfolge zu bringen, und die Beobachtung der »sortierten Glyphen« widerspricht damit der Hypothese, dass es sich beim »Text« des Voynich-Manuskriptes um eine direkt notierte Sprache handeln könnte und stützt die Hypothese einer Kryptografie oder eines in einem psychologischen Prozess entstandenen »Gebrabbels«. Tatsächlich ist es die teilweise feste Reihenfolge der Glyphen in den »Wörtern«, welche die beobachtbare und in einigen Punkten sehr auffällige Morphologie der »Wörter« erzwingt und damit bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck einer auf Präfixen und Suffixen basierenden »Grammatik« in den »Wörtern« des »Voynichianischen« erweckt.

Die scheinbare Grammatik

Eine sehr typische »Endung« der »Wörter« besteht etwa aus einer bis vier »i«-Glyphen, gefolgt von »n«, »r«, »l«, »m« oder »s«; dieser »Endung« geht häufig die Glyphe »a« voran. Der häufigste Vertreter der so gebildeten »Wörter« ist »daiin«, und dieses »Wort« tritt auch gehäuft als Endung komplexerer »Wörter« auf. (Es gibt auch weitere typische Endungssysteme, und in seltenen Fällen tritt eine solche Endung mitten im »Worte« auf.)

Die Strukturen innerhalb der Zeilen** sind leider weniger offensichtlich und auch für mich noch nicht völlig greifbar. Sehr deutlich ist die Häufung von auf »m« endenden Wörtern am Ende einer Zeile; etwas undeutlicher ist die abnehmende durchschnittliche Länge der »Wörter« in Abhängigkeit von der Nähe des »Wortes« zum Zeilenende; alle anderen Erscheinungen sind diffuser und nur schwierig in falsifizierbaren Aussagen zu fassen.

Ich bin der Meinung, dass eine Hypothese, die beim Lesen des Manuskriptes hilfreich sein soll, auch diese Strukturen erklären muss. Hier haben wir es mit Artefakten des bei der Verschlüsselung oder Niederschrift verwendeten Verfahrens zu tun (oder vielleicht auch mit Artefakten eines psychologischen Prozesses, der diesen »Text« hervorbrachte). Ebenfalls ist in Betracht zu ziehen, dass es sich eher um »weiche« Regeln handelt, und dass scheinbar willkürlich über das ganze Manuskript verteilt Ausnahmen von den leicht beobachtbaren Regeln auftreten. Das macht die Aufgabe nicht leichter, aber es ist nicht zu ändern.

Anagramme

Eine Möglichkeit ist es, dass Anagramme notiert wurden, also Umstellungen der Buchstaben des Textes.

Zum Beginn der Neuzeit haben Forscher immer wieder ihre Entdeckungen und Aussagen in Form von Anagrammen mitgeteilt, um einerseits im Nachhinein belegen zu können, dass sie die jeweiligen Entdeckungen wirklich gemacht haben, ohne auf der anderen Seite ihre Entdeckung oder Aussage frühzeitig mitteilen zu müssen.

Hierzu nur zwei Beispiele aus der Geschichte:

Als Galileo Galilei sein Teleskop auf die Venus richtete, stellte er fest, dass die Venus sichelförmig erscheint und Phasen vergleichbar zum Erdmond aufweist. Dies formulierte er in den Worten »Cynthiae figuras aemulator mater amorum« (Die Mutter der Liebe [Venus] ahmt die Erscheinung Cynthias [Mondgöttin] nach). Diese Entdeckung teilte er in Form eines Anagrammes als »Haec immatura a me iam frustra leguntur oy« mit.

Christiaan Huygens entdeckte die wirkliche Gestalt des Ringsystemes um Saturn, nachdem wegen der ungenügenden Optik früher Teleskope allerlei Spekulationen eines »Planeten mit Henkeln« vertreten wurden. Aber sein Postulat »Annulo cingitur, tenui plano, nusquam cohaerente, ad ecliptiam inclinato« (Er ist von einem Ring umgeben, dünn und flach, nirgends an ihn gebunden, geneigt gegen die Ekliptik) teilte er ebenfalls in Form eines Anagrammes mit. Allerdings machte sich Huygens nicht die Mühe, den Eindruck eines Textes zu erwecken, sondern sortierte einfach die Buchstaben seiner Aussage alphabetisch.

Frühneuzeitliche Hashfunktion

Es handelt sich bei diesen Anagrammen ebenfalls um eine Form der Kryptografie, und sogar um eine recht modern*** anmutende Form der Kryptografie, nämlich um ein Einwegverfahren. Das Ziel dieser Kryptografie ist es nicht, einen Text vom Sender zum Empfänger zu befördern, ohne dass dieser Text während seiner Beförderung von einem Dritten gelesen werden könnte, sondern um im Nachhinein belegen zu können, dass man zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit im Besitz dieses Textes war, ohne diesen Text verfrüht offenbaren zu müssen. Eine Entschlüsselung ist bei dieser Anwendung unerwünscht, und das (nicht nur) von Galilei und Huygens angewendete Umstellen der Buchstaben macht es (für damalige technische Möglichkeiten) fast unmöglich, den ursprünglichen Text zu ermitteln. Der Prioritätsanspruch auf die mitgeteilten Entdeckungen lässt sich hingegen sehr leicht mit dem ursprünglichen Text belegen.

Zurück zum Voynich-Manuskript

Was hat das mit dem Voynich-Manuskript zu tun?

Das Manuskript könnte ebenfalls eine Notation in Anagrammen sein. Anders als Galilei und Huygens könnte der Autor des Manuskriptes die Zeichen der einzelnen Wörter (oder ähnlicher Einheiten) seines Textes auf eine bestimmte Weise sortiert haben, um dann die Wörter in den einzelnen Zeilen noch einmal nach einem schwer durchschaubaren Verfahren zu sortieren. Wenn er dabei einen Fehler beim Sortieren machte, ließ er diesen Fehler einfach stehen und brachte auf diese Weise das Nebeneinander von verwirrenden Unregelmäßigkeiten bei einem sonst außerordentlich hohen Maß an Ordnung im Manuskripte hervor.

Eine solche »Verschlüsselung« hätte sich mit den verfügbaren Techniken des späten Mittelalters durchführen lassen. Und jeder Versuch einer Entschlüsselung wäre zum Scheitern verurteilt. abelnrsu ads aikmnprstu bbeilt efru eimmr. aell afll chiiklrw der dnu eehmu ffghlnnoossu ist ist mnosstu. ads ceehnos chim eeikn efru egllnorstuv ist. Wer mir das nicht glaubt, versuche sich an einem kurzen, deutschen Text, dessen Autor bekannt und dessen Kontext völlig klar ist… 😉

Entwarnung!

Wahrscheinlich ist das Voynich-Manuskript nicht auf diese hoffnungslose Weise verschlüsselt, da es sinnlos wäre.

Die bloße Textmenge spricht dagegen, dass hier jemand durch Bildung eines Anagrammes seinen wissenschaftlichen Prioritätsanspruch dokumentieren wollte. Hierfür hätte es keiner ausführlichen Darlegung bedurft, sondern eine kurze Zusammenfassung des erkannten Neuen in eine Kernaussage hätte genügt. Auch ist die eben von mir beschriebene Form des Schreibens in Anagrammen nicht geeignet, persönliche Notizen so niederzuschreiben, dass diese wenigstens noch für den Autor lesbar bleiben.

Doch das stärkste Argument gegen die Möglichkeit, dass das Voynich-Manuskript in Anagrammen geschrieben sein könnte, ist die zusätzliche Verwendung eines unüblichen und einmaligen Schriftsystemes. Schon die Verwendung von Anagrammen hätte völlig hingereicht, den Text unlesbar zu machen; die Erfindung eines eigenen Schriftsystems als zusätzliche Schicht der Verschlüsselung wäre hier ein übergroßer und unnützer Aufwand gewesen, den der Autor wohl vermieden hätte.

Was verbleibt?

Es bleibt aber die Tatsache, dass die »Wörter« im Manuskripte in einer Weise gebildet sind, die auf eine feste Reihenfolge bestimmter Glyphen und Glyphenfolgen in einem Wort hindeutet, dass also ein Teil des Zeichenvorrates im »Worte« sortiert zu sein scheint. Andere Glyphen und Glyphenfolgen erscheinen hingegen mit recht komplexen Mustern innerhalb der »Wörter« des »Textes«, dies gilt vor allem für »ee«, »o«, »y«, etwas weniger für »d«, »s« und die Gallows.

Und diese Beobachtung ist einer genaueren Untersuchung wert – denn sie muss entweder ein Artefakt der Verschlüsselung oder eine feste Konvention für das Einfügen von Leerzeichen in den »Text« sein. Ersteres wäre natürlich hilfreicher als letzteres…

Anmerkungen

* Wie immer verwende ich hier zur Bezeichnung der Glyphen EVA, obwohl ich mir nicht mehr sicher bin, dass das angesichts der in meinen Augen sehr verschiedenen »sh«-Glyphen im Manuskript eine gute Wahl für tiefere Analysen ist.

** Wer mit einem Computerprogramm und einer Transkription die Zeilenstrukturen untersucht, sollte darauf achten, dass er es mit Zeilen zu tun hat, dass also keine Diagramme mit kreisförmigen Umschriften in diese Analyse eingehen, da hier der Anfang und das Ende der »Lesung« oft willkürlich gewählt ist. Auch die »Labels« und »Titel« sollten nicht als Zeilen mit einem Wort betrachtet, sondern vermieden werden. Entsprechende Angaben im Locator der transkribierten Texte sind also auszuwerten. Ich selbst bin mehrfach eher naiv an die Transkriptionen herangegangen und habe mich über die Ergebnisse gewundert, es ist also ein leicht zu machender Fehler.

*** Heute werden – vor allem bei vernetzten Computersystemen – zu diesem Zweck Hashfunktionen verwendet, um die Integrität der Daten sicher zu stellen, ohne hierzu Daten doppelt übertragen zu müssen. Ebenfalls werden Passwörter mit einer solchen Einwegverschlüsselung chiffriert und gespeichert, um sie gegen die Eingabe bei einer Anmeldung abgleichen zu können, ohne dass ein Passwort im Klartext auf einen möglicherweise angreifbaren Computer gespeichert werden muss. Auch hier ist die »Verschlüsselung« vergleichsweise einfach, die »Entschlüsselung«, also die Wiederherstellung der Daten, hingegen hoffnungslos schwierig.

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