Die Glyphen und die Weirdos
Sonntag, 6. Januar 2008 12:55
An sich ist das Schriftsystem des Voynich-Manuskriptes einfach aufgebaut. Es gibt, wenn man die Glyphen nach ihrem ersten Strich kategorisiert, vier große Gruppen von Glyphen sowie einige besonders geformte Zeichen.
Die vier Gruppen der Glyphen
Die erste Gruppe von Glyphen beginnt mit einem kurzen, diagonal von oben links nach unten rechts geführten Strich, der mit weiteren Elementen versehen werden kann. Ich nenne diese Gruppe nach ihrer einfachsten Glyphe die I-Glyphen. (Dies ist meine Benennung und kein allgemein üblicher Name.) Diese sind etwa i, r, n, l, m.
Die zweite Gruppe von Glyphen beginnt mit einem kleinen Bogen, der mit weiteren Elementen versehen werden kann, aber auch häufig für Ligaturen verwendet wird (EVA ch). Ich nenne diese Gruppe nach ihrer einfachsten Glyphe die E-Glyphen. (Auch dieser Name ist nicht allgemein üblich.) Diese sind etwa e, s, ch, g, sh, o; aber auch d, y und a sind wegen ihres ersten Striches zu dieser Gruppe zu zählen.
Die dritte Gruppe sind die Gallows, die mit einem langen, senkrechten Abwärtsstrich beginnen. Ich nenne diese Gruppe von Glyphen der allgemeinen Konvention folgend Gallows. Diese sind t, k, p, f. An einigen Stellen treten fantasievoll ausgeführte Formen der Gallows auf, die aber immer noch klar als Gallows zu erkennen sind.
In einer vierten Gruppe fasse ich Glyphen zusammen, die aus dem gewohnten Schema herausfallen. Der häufigste Vertreter dieser Gruppe ist das beinahe nur am »Wortanfang« auftretende q. Nach diesem auffälligsten Vertreter der ganzen Gruppe spreche ich von den Q-Glyphen. (Was wiederum kein allgemein üblicher Name ist.) Zu dieser Gruppe zähle ich auch das x, das im »Text« des Manuskriptes nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Es tritt entweder am Ende eines »Wortes« auf, oder es steht vor den Glyphen a, o oder y. Hier drängt sich der Gedanke auf, dass diese ungewöhnliche Glyphe – ähnlich wie q – eine besondere, noch nicht verstandene technische Funktion erfüllt. In den Ringen der kreisförmigen Diagramme erscheint x allerdings gleichberechtigt neben anderen Glyphen, was bei q nicht der Fall ist.
Die Glyphen der ersten und zweiten Gruppe folgen häufig wiederholt aufeinander und scheinen in diesen Kombinationen eigene Zeichen (also Bedeutungseinheiten) zu bilden, wie es sich in den typischen Endungen ir, iir, in, iin, iim am erkennbarsten zeigt. Wenn man sich längere Zeit mit dem Manuskript beschäftigt hat, bekommt man ein Gefühl dafür, dass in den meisten »Wörtern« des »Textes« die Abfolge der Glyphengruppen nicht willkürlich ist, sondern gewissen Regeln folgt, die nur am Ende eines »Wortes« häufiger durchbrochen werden. (Ich werde später einmal mehr darüber schreiben.) Tatsächlich hilft mir diese Einsicht manchmal, fragwürdige Stellen einer Transkription zu erkennen – aber das »verdammte Manuskript« enthält auch wirklich Abfolgen von Glyphen, die diesen Regeln widersprechen.
Es ist also ein praktisches, schnörkelloses und elegantes Schriftsystem, das einem begegnet, wenn man sich mit dem Manuskript beschäftigt. Der größte Teil des »Textes« wird aus sehr einfachen Elementen gebildet, die sich gut mit einer Feder schreiben lassen. Es entsteht fast schon der Eindruck einer gewissen Phantasielosigkeit.
Die Weirdos
Umso verwunderlicher erscheint es da, dass es immer wieder einzelne Glyphen gibt, die sehr selten sind und die sich nicht in das einfache System einzufügen scheinen. So lange die Bedeutung des Schriftsystems nicht bekannt ist, kann niemand eine Aussage darüber treffen, ob diese Zeichen lediglich Nachlässigkeiten (oder Spielereien) des Schreibers sind, oder ob sie eine besondere Bedeutung tragen. Jede Transkription hat mit diesen seltsamen Glyphen zu kämpfen, die meisten einfachen Auswertungen mithilfe eines Computers scheinen dieses Problem zu ignorieren. Im englischen Sprachraum spricht man von den Weirdos, ein Wort, das ich mangels besserer Bezeichnungen gern übernehme…
Die Weirdos sind gar nicht selten. Auf beinahe jeder Seite lässt sich mindestens ein Beispiel finden, und auf einigen Seiten treten sie stark gehäuft auf. Einige Weirdos sind nur leichte Abwandlungen des Zeichenvorrates, einige andere scheinen auf einen unverständigen Versuch der Restauration zurück zu gehen, und wieder andere sind von großer Besonderheit. Die hier vorgestellten Weirdos sind nur eine kleine Auswahl der bösen Überraschungen, die einem das Voynich-Manuskript in den Weg legt, wenn man es zu lesen versucht. Beispiele, die ganz offenbar auf fehlerhafte Restauration zurückgehen, wurden bewusst ausgeklammert; ferner werden solche Weirdos nicht erwähnt, die – wie die beiden seltsamen Gebilde auf dem linken Rand der Seite f1r – nicht sicher als Glyphen im »Text« erkennbar sind. Ich hoffe, das diese kleine und völlig unvollständige Sammlung das Misstrauen gegenüber den gängigen Transkriptionen verstärkt und die Neigung erhöht, sich mit dem richtigen Manuskript zu befassen.
Einige (sehr wenige) Beispiele
Viele Weirdos sind gar nicht so ungewöhnlich, wie der Name Weirdos vermuten lässt. Er leitet sich vom englischen Adjektiv »weird« ab, das zu Deutsch so viel wie »sonderbar« oder »unheimlich« bedeutet. Auch an einem »Wort«, das mit qo beginnt, ist zunächst nichts Sonderbares, es handelt sich um ein sehr häufiges Präfix. Auch ist es im Manuskript gar nicht unheimlich, dass ein häufiges Präfix als einzelnes Wort auftritt. Was diesen Weirdo auf Seite f1v auszeichnet, ist der deutlich sichtbare, horizontale Strich über der o-Glyphe, der den Eindruck eines diakritischen Zeichens erweckt. (In lateinischen Handschrift wurde mit einem solchen Strich über einem Vokal ein »m« notiert.) Ein solcher Strich taucht an keiner anderen Stelle des Manuskriptes auf.
Ebenfalls auf Seite f1v findet sich in der letzten Zeile diese Besonderheit, die auf dem ersten Blick kaum ins Auge fällt. Das Wort wird einfach als pol »gelesen«. Dabei ist die p-Glyphe ungewöhnlich geformt. Ihr senkrechter Strich geht nicht bis auf die Grundlinie herunter, sondern ist auf einen e-Strich aufgesetzt, was sehr außergewöhnlich ist. Natürlich kann es sich hier um eine Korrektur des Schreibers handeln, aber es ist schon erstaunlich, dass dieser ausgerechnet ein Gallow vergessen haben sollte, um gleich mit dem ersten Bogen der folgenden o-Glyphe zu beginnen. Selbst, wenn dies sein Fehler gewesen sein sollte, es ist genügend Abstand zum vorhergehenden Wort vorhanden, um das eventuell vergessene p nachträglich einzufügen. Diese Schreibweise erweckt den Eindruck einer Absicht des Schreibers, und zwar einer im Manuskript sehr ungewöhnlichen und damit rätselhaften Absicht.
Die Seite f2r erfreut nicht nur durch ihre gute »Lesbarkeit«, sondern auch durch ein besonders seltsames Wort, das sich am zutreffendsten als sa‹iin transkribiert. Doch schon die Gestalt der s-Glyphe entspricht nicht dem Regelfall, da der obere Bogen eine Schleife formt und offenbar vom Autor vorsichtig mit der Federspitze gezogen wurde, um diese Form auch wirklich sicher auf Pergament zu bringen. Sehr ungewöhnlich ist aber auch der – sonst vor allem in der Komposition des sh gebräuchliche – Bogen zwischen a und i.
Ein in den gewöhnlichen Konzepten gar nicht richtig transkribierbarer Weirdo findet sich auf Seite f4r. Die erste Glyphe passt nicht in die normalen Gestaltmerkmale des Zeichenvorrates. Sie sieht aus, als wäre sie eine um 180 Grad gedrehte e-Glyphe oder der abschließende Bogen einer o-Glyphe ohne den ersten Strich eines o. Um das hier abgebildete »Wort« in eine Transkription zu übernehmen, muss eigens für diese seltsame Glyphe eine Notation eingeführt werden. Tatsächlich haben hier fast alle Transkriptoren eine unlesbare Glyphe notiert oder das deutlich erkennbare Artefakt überhaupt nicht in die Transkription aufgenommen, als sei es ein Tintenklecks. In jedem Fall ist der Bogen zu weit von der Pflanzenzeichnung entfernt, um ein möglicher Bestandteil des grafischen Entwurfes zu sein. Es handelt sich um einen Bestandteil des »Textes«
Seite f4v zeigt in der vierten Zeile eine wirklich ungewöhnliche q-Glyphe. Der senkrechte Strich reißt sehr weit nach oben aus und erweckt so fast den Anschein, als hätte der Autor an dieser Stelle beinahe versehentlich einen Gallow schreiben wollen, diesen aber noch zu einem qo »gerettet«. Weil das nächste Wort jedoch nicht direkt mit einem Gallow beginnt, ist diese schnelle Erklärung eher fragwürdig. Da das nächste Wort jedoch mit der Ligatur cth beginnt, könnte sich hier jedoch ein kleiner, sehr unsicherer Hinweis darauf finden, dass der Autor beim Schreiben der ch-Ligaturen mit einem Gallow in der Mitte so vorgegangen ist, dass er mit dem Gallow begann. Aber das ist natürlich eine Spekulation auf sehr dünner Grundlage…
Ein recht häufiger Weirdo ist die unvollständig ausgeführte ch-Ligatur mit einem integrierten Gallow. Das abgebildete Beispiel ist der Seite f8r entnommen. Im Regelfall tritt die c-Glyphe nicht alleinstehend auf, sondern nur in der Kombination ch. Aber es gibt im Manuskript immer wieder Beispiele dafür, dass das c an einem Gallow endet und nicht wie erwartet in einem h (oder, was seltener auftritt, in einem o oder y) fortgesetzt wird.
Immer wieder begegnet man auch Ausführungen der vertrauten Glyphen, deren Abweichungen von der normalen Form so stark und auffällig sind, dass man nicht an eine Beiläufigkeit glauben mag. Dies gilt etwa für die beiden einleitenden r-Glyphen der Zeilen 11 und 12 auf Seite f10r, deren Anfangsstrich eine deutlich vom Schema der i-Glyphen abweichende Form hat und aus dem normalen Duktus der Schrift klar herausfällt. Obwohl dies ein sehr auffälliger Weirdo ist, eine Glyphe, deren Gestalt eher an eine arabische Ziffer »3″ als an ein r erinnert, wird hier meistens ein r gelesen.
Die seltsame Form einer i-Glyphe mit »anderem«, nach hinten gebogenem Anfangsstrich taucht gar nicht so selten im Manuskript auf, ein anderes Beispiel ist dieses n auf Seite f14v in der sechsten Zeile. Trotz des deutlich geformten Bogens und der Tatsache, dass diese Glyphe höher als die anderen Glyphen der Zeile steht und allein dadurch wirklich auffällt, liest hier jede Transkription ein n.
Die Seite f15v zeigt in der zweiten Zeile eine seltsame Mischbildung aus einer q-Glyphe und einem Gallow. Obwohl diese Seite starke Anzeichen der Restauration zeigt, tritt diese Seltsamkeit gerade an einer eher unverdächtigen Stelle auf. Diese Glyphe ist für einen Gallow zu niedrig, dennoch wurde der Anfangsstrich ungefähr auf der richtigen Höhe begonnen, aber viel zu weit nach unten gezogen.
Eine seltsame und einmalige Glyphe, die entfernt an die y-Glyphe erinnert, findet sich auf Seite f19r. Auffällig ist hier, dass die Glyphe über einer o-Glyphe begonnen wurde. Da das so geformte Symbol keine erkennbare Ähnlichkeit zu einer anderen Glyphe hat, kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hier um eine Korrektur eines Schreibfehlers handelt – oder aber, der Autor hat nur sehr selten Schreibfehler gemacht. Die Tatsache, dass auch f19r stark von Restauration geprägt ist, macht die Beurteilung nicht einfacher.
Recht unverdächtig in Hinblick auf Restaurationen sieht hingegen Seite f20r aus, und dennoch findet sich hier ein rätselhafter Weirdo. Was einige Transkriptoren als ein r »gelesen« haben, ist in Wirklichkeit ein etwas zu klein geratenes s mit einem Bogen, der mit dem oberen, rückwärts geschwungenen Bogen des s zusammenfließt. Der Gesamteindruck ist ein schwer deutbares Zeichen, das allerdings mit Gewissheit nicht als r zu »lesen« ist.
Viele Weirdos sind ungewöhnlich geformte Gallows, so wie dieses Beispiel aus der ersten Zeile der Seite f24v. Natürlich bleiben diese Gallows noch als Gallows erkennbar, aber es wird schwierig, sie vernünftig zu deuten. So ein k mit einem deutlichen Knick kann einfach nur auf ungewöhnliche Weise verziert sein, es kann aber auch eine Mischform zwischen k und f andeuten oder es kann sich auch um ein völlig anderes Zeichen handeln. Das Transkriptionsalphabet EVA hat eigens für diese eine Glyphe den speziellen Code 146 eingeführt, so dass hier wenigstens die »richtige« Lesart klar ist.
Aber es ist kaum möglich, für jede Seltsamkeit im Schriftfluss einen eigenen Code einzuführen. Diese Glyphe auf Seite f25v erweckt den Eindruck, als sei sie die rechte Hälfte eines Gallows, der ohne den senkrechten Strich geschrieben worden wäre. Um eine Notlösung des Schreibers wegen Platzmangels kann es sich kaum handeln, da genügend Raum zur vorhergehenden o-Glyphe vorhanden ist. Die Glyphe ist genau so rätselhaft wie das kleine Schildkröt-Drachen-Pferd, das in der unteren linken Ecke an der Pflanze nascht. (Vorschläge für einen besseren Namen für dieses »Tier« sind willkommen.)
Abschließendes
Ich habe hier nur Beispiele von Weirdos erwähnt, die auffällig sind und wahrscheinlich nicht auf das Werk einer unverständigen Restauration zurückgehen. Es ist leicht, auf beinahe jeder Seite mindestens ein Beispiel für eine nicht genau bestimmbare Glyphe zu finden. Die recht bekannten Seiten, auf denen sich Weirdos stark häufen, habe ich hierfür gar nicht betrachtet, obwohl diese Seiten in vielfacher Hinsicht sehr interessant sind.
So unsicher die Bedeutung der Weirdos ist – wir wissen ja gar nichts über die Bedeutung des Schriftsystemes – so wichtig ist dieses Thema. Handelt es sich in einigen Fällen um Verschreiber des Autors, die von ihm selbst korrigiert wurden, indem sie zu Weirdos geformt wurden, so können diese Artefakte etwas neues über die Vorgehensweise des Autors bei der Niederschrift verraten. Damit könnten sie auch einen Fingerzeig auf das zur Verschlüsselung angewendete Verfahren geben, wenn hier überhaupt eine Verschlüsselung vorliegt. Angesichts der Tatsache, dass wir alle nach Jahrzehnten der Forschung immer noch nichts wissen, könnten solche kleinen Indizien ein neuer Ansatzpunkt werden, das Manuskript zu verstehen – oder doch wenigstens mit einem neuen Ansatz zu scheitern… 😉
Es lohnt sich also, ein offenes Auge für die Weirdos zu haben. Vor allem, weil wir aus den regelmäßigeren Glyphen auch noch nicht schlau geworden sind. Dennoch verwenden wir alle immer wieder Transkriptionen, die eine Regelmäßigkeit vortäuschen, die sich im wirklichen Manuskript nicht in diesem Maße finden lässt.
Thema: Interpretation | Kommentare (0) | Autor: elias