Beitrags-Archiv für die Kategory 'Seiten'

f3v: Traumgewächse

Montag, 19. Mai 2008 14:34

Mehr zur Seite f3vMan muss gar nicht so lange in das Manuskript schauen, um zu der Überzeugung zu kommen, dass die darin dargestellten »Pflanzen« wirklich surreal sind und eher einer Traumwelt entspringen. Schon die sechste Seite macht auf dem ersten Blick klar, dass es zumindest einige »Pflanzen« des Manuskriptes gar nicht in der Realität geben kann. Der Versuch, durch eine Identifikation der »Pflanzen« einen Ansatzpunkt für eine Entschlüsselung des Textes zu bekommen, ist zum Scheitern verurteilt.

Das heißt allerdings nicht, dass ich es nicht auch versucht hätte. Eine Zeitlang habe ich mir gesagt, dass diese Pflanzen vermutlich stark stilisiert gezeichnet wurden und deshalb nicht ganz so leicht zu identifizieren sind, dass es aber dennoch möglich sein könnte. Immerhin verspricht die Analyse der dargestellten botanischen Erscheinungen auch einen Weg, den Ort zu finden, an dem dieses Buch geschrieben wurde – und gibt damit eventuell einen wichtigen Fingerzeig auf die darin verwendete Sprache. Leider ist dieser Weg nicht gangbar, weil diese »Pflanzen« nirgends auf der Erde wachsen.

Das wird auf Seite f3v recht deutlich.

Ein Blatt der Pflanze auf Seite f3vSchon die Form der Blätter ist auffällig. Sie ist so auffällig, dass eine ähnliche Pflanze in der botanischen Wirklichkeit sofort identifiziert werden sollte.

Was einem auf dieser Seite als Blatt einer »Pflanze« entgegentritt, erinnert eher an die Karikatur eines Frosches als an ein Organ zur Photosynthese. Da scheinen zwei Beine zu sein, zwei Arme, ein Körper und ein seltsam deformierter Kopf. Selbst bei einer abstrakten Stilisierung einer Pflanze in einem Buch würde doch die Form der wesentlichen Gestaltmerkmale erhalten bleiben.

Aber nicht nur die Blätter sorgen für Zweifel an der botanischen Realität der Pflanze, auch die Wurzel macht einen unwirklichen Eindruck.

Die Wurzel der Pflanze von f3v

Diese Wurzel erweckt den Eindruck mehrerer aufeinandergesteckter Wurzelteile. Am oberen Ende eines solchen Teiles scheint jeweils eine »Plattform« zu sein, aus der die nächste Wurzel entsprießt.

Die Blüte der Pflanze von Seite f3vVöllig sicher scheint jedoch der surreale Charakter der Pflanzen zu sein, wenn man sich einige Blüten anschaut.

Diese Blüte erweckt nicht den Anschein eines pflanzlichen Organes zur Fortpflanzung. Es scheint sich um einen großen, fleischigen Körper zu handeln, der an einem Ende wie aufgeschnitten wirkt. In diesem Ende befinden sich einige nicht besonders deutlich gezeichnete Elemente, die nicht an Fruchtknoten oder Staubgefäße erinnern, sondern eher an unscheinbare Blüten in einer Scheinblüte. Umrahmt wird dieses Angebot an bestäubende Insekten von einem Kranz farbloser Kronblätter, die im Rahmen einer Scheinblüte wenig Signalwirkung entfalten könnten. Es ist eine biologisch sinnlose Blüte.

Auch wenn eine geographische Lokalisierung an Hand solcher »Pflanzen« zum Scheitern verurteilt ist, bleibt der eingangs geäußerte Gedanke vollgültig. Es ist immer noch möglich, an Hand dieser Gewächse einen Ort zu finden, an welchem dieses Manuskript wahrscheinlich entstanden ist. Das Wort »wahrscheinlich« meint hier allerdings nur, dass dieser Schluss wahr zu sein scheint, es ist keine sichere Aussage. Alle diese (oder doch sehr viele dieser) Pfanzen wachsen in der Fantasie eines menschlichen Geistes und nirgendwo auf der Erde. Es sind Traumgewächse.

Das könnte durchaus auch ein Hinweis darauf sein, dass die geschriebenen Teile des Manuskriptes den gleichen Ursprung haben, Trauminhalte sein könnten, die in einer Traumsprache verfasst sind. Jeder Versuch, einen gewöhnlichen sprachlichen Text in diesem Buch zu finden, wäre dann zum Scheitern verurteilt. Die reflektierten Leistungen des wachen Bewusstseins unterscheiden sich nun einmal deutlich von den unbewussten Leistungen des Traumes, der zwar ein vollwertiger, aber doch im Wesentlichen regressiver und ältere Schichten der Psyche offen legender psychischer Akt ist. Natürlich ist dieser Akt dennoch kein strukturloses Rauschen, und er könnte durchaus die im Voynich-Manuskript beobachteten Strukturen hervorbringen. (Über die Strukturen muss ich demnächst einmal einen längeren Text verfassen.)

Das kollektive Scheitern aller wissenschaftlichen Kryptografie der Neuzeit mit ihrer computergestützen Analyse könnte durchaus als ein weiteres Indiz für diese Hypothese aufgefasst werden. Natürlich bedeutet das nicht, dass das Manuskript nicht doch einem Verständnis zugänglich wäre, es ist nur eher etwas für mutige Psychologen als für »harte« Wissenschaftler. Allerdings habe ich noch keine Idee, wie in dieser Richtung geforscht werden könnte und welchen Beitrag ich dazu leisten könnte. Selbst in einer solchen Forschung wären mir »harte« Daten und reproduzierbare Ergebnisse wichtig.

Und denn gibt es natürlich noch einen psychischen Akt, der dem des Träumens mehr als nur oberflächlich verwandt ist: Das Schaffen von Kunst. Es ist durchaus möglich, dass das Voynich-Manuskript »nur« ein zugegebenermaßen recht ungewöhnliches Kunstwerk ist, das keine Nachricht im Sinn einer Sprache transportieren soll. Auch dann würden alle Ansätze scheitern, einen »Sinn« in diesem »Text« zu finden.

Thema: Kunst, Seiten, Spekulation | Kommentare (0) | Autor:

f3r: Spekulation zu den »Pflanzen«

Sonntag, 30. Dezember 2007 0:55

Seite f3r in Miniatur-DarstellungDie Seite f3r ist eine Seite des »pflanzenkundlichen« Teiles. Die dort seitenfüllend dargestellte »Pflanze« weist keine erkennbare Ähnlichkeit zu einer in der botanischen Wirklichkeit dieses Planeten wachsenden Pflanze auf. Dieser Schluss scheint zumindest berechtigt, wenn man das Scheitern aller fachkundigen Bemühung vor Augen hat, die Pflanzen des Voynich-Manuskriptes zu identifizieren.

Ist dies ein voreiliger Schluss? Könnte man etwa einen ähnlichen Schluss aus allen bislang gescheiterten Versuchen ziehen, den »Inhalt« des Manuskriptes zu »lesen«, nämlich den Schluss, dass das kollektive Scheitern vieler Geister ein überdeutliches Indiz dafür ist, dass es gar keinen »Inhalt« gibt? Und kann auf dem Hintergrund eines solchen Schlusses Gordon Rugg mit seiner Annahme, dass es sich beim »Text« um einen mit Hilfe von Matrizen und Schablonen angefertigten »Fake« handeln könnte, doch noch recht bekommen? Trotz aller Erscheinungen, die er mit seiner Methode nicht reproduzieren konnte?

Nun, die Lage ist bei den »Pflanzen« ist etwas anders. Während die Schrift beispiellos bleibt und keine leicht widerlegbaren Annahmen über Beschaffenheit und Inhalt zulässt, lassen sich die »Pflanzen« leicht mit ähnlichen Pflanzen in der Natur vergleichen. Denn was in den Zeichnungen dargestellt wird, das sollen unzweifelhaft Pflanzen sein. Die Annahme, dass es sich um wirkliche botanische Erscheinungen handelt, wird dabei in den meisten Fällen recht klar widerlegt. Das hier vielleicht im Text vorgestellte Kraut namens »tsheos« weist zwar eine Kombination vertrauter Merkmale auf, ist aber dennoch nicht identifizierbar.

Detailansicht der BlätterZunächst sollte man sich nicht von der Farbgebung irritieren lassen. Die insgesamt sehr nachlässige Ausführung der Kolorierung steht im Gegensatz zu den zwar schnellen, aber doch alles in allem sorgfältigen Zeichnungen, die der Autor mit einer Feder anfertigte. Diese Farben wurden vermutlich erst nachträglich, vielleicht im Zuge einer Restauration, hinzugefügt, sie gehören eher nicht zum Entwurf des Autors. (Aber selbst das ist nicht völlig sicher.) Damit gehört auch eine typische und sehr verwirrende Eigenschaft vieler »Pflanzen« und auch dieses besonderen »Pflanze« des Manuskriptes nicht zum ursprünglichen Entwurf, und das sind die alternierenden Farben der Blätter.

Der Stängel dieser PlfanzeWas hingegen zum Entwurf gehören dürfte, dass sind die Punkte in Tintenfarbe auf den Unterseiten der stark überlappenden Blätter. Sie sind das einzige Merkmal, das auf diesen Blättern neben der Blattform angedeutet ist, sie scheinen also im Gegensatz zu einer Äderung oder Behaarung wichtig und »auffällig« zu sein. Beim Betrachten drängt sich der Gedanke an Sporen auf, die dargestellte »Pflanze« ist also ein Nacktsamer. Diese Interpretation deckt sich gut mit der Tatsache, dass diese »Pflanze« ohne eine Blüte dargestellt wurde, während die Mehrzahl der »Pflanzen« im Manuskript blühend gezeichnet sind. Auch der mit einer Schraffur auf dem Stängel angedeutete Schatten mit der klaren, explizit nachgezogenen Begrenzungslinie gehört wohl zur ursprünglichen Absicht des Zeichners, er soll vielleicht einen kantigen Stängel andeuten, wie man ihn ja bei vielen Pflanzen finden kann.

Mit diesen Informationen sollte es doch durchaus möglich sein, Kandidaten für die Identifikation der Pflanze aufzufinden. Aber es gibt offenbar keinen Nacktsamer von solcher Gestalt. Denn jeder Versuch, diese enigmatischen »Pflanzen«-Zeichnungen zu identifizieren, ist gescheitert, obwohl ein großes Interesse an einer solchen Identifikation besteht. Es ist ja anzunehmen, dass diese »Pflanzen« einen Bezug zum »Text« der jeweiligen Seite haben könnten. Aber die »Pflanzen« erweisen sich als genau so fantastisch wie der »Text«, vielfach erwecken sie sogar den Eindruck, sie seien wie eine Kollage aus verschiedenen Elementen wirklicher Pflanzen zusammengesetzt.

Genau diese Beobachtung könnte aber auch eine Lösung des »Pflanzen«-Problemes sein. Hierzu nur eine erste, naheliegende Spekulation. Was wäre, wenn es im »Text« gar nicht um eine einzelne »Pflanze« geht, sondern um eine Zubereitung aus verschiedenen Pflanzen, sei es eine Rauschdroge, sei es eine Arznei? Könnte der Autor dann, um die Wirkung einer solchen Rezeptur aus verschiedenen Pflanzen zu illustrieren, eine synthetische »Pflanze« mit Merkmalen aller darin verwendeten Pflanzen ersonnen haben? Könnte der zugehörige »Text« so etwas besagen wie: Eine »Pflanze« (das meint in solchem Fall: eine Zubereitung aus pflanzlichen Bestandteilen), die aus der Wurzel von Kraut A, dem Stängel von Kraut B und den Blättern von Kraut C besteht, hat die folgenden Anwendungsfälle?

In diesem Fall wären auch die Zeichnungen »verschlüsselt«, und zwar auf eine recht wirkungsvolle Weise. Das Geheimwissen, das durch die Form der Niederschrift verborgen wurde, würde nicht leicht in den Illustrationen offenbar werden.

Leider sind diese »Pflanzen« nicht detailliert genug gezeichnet, als dass man die einzelnen Elemente ohne Kenntnis des »Textes« genau bestimmen könnte. Aber dennoch ist diese Spekulation ein Ausgangspunkt für eine mögliche Überprüfung, die den Gedanken wahrscheinlich rasch widerlegen wird. (Das geht mir immer so.) Bei der dargestellten Synthese der Illustrationen sollten gewisse Teile von einer Gruppe Pflanzen mit starker pharmazeutischer Wirkung häufiger verwendet werden; diese Teile könnte man zu identifizieren versuchen, um sie mit Mustern im »Text« der entsprechenden Seite abzugleichen. Wenn sich dabei zeigt, dass gewisse Textmuster regelmäßig oder doch nur häufig zusammen mit gewissen, ähnlich aussehenden Pflanzenteilen auftauchen, könnte diese Spekulation der Wirklichkeit des Manuskriptes nahe kommen. Vielleicht entsteht auf diese Weise sogar ein Ansatz, sich der Bedeutung des »Textes« anzunähern.

Ach, es gibt auch im neuen Jahr noch viele Aufgaben für den, der dieses Manuskript lesen möchte!

In diesem Sinne: Einen guten Rutsch in das neue Jahr.

Ach, eines noch: Ich bin mir völlig darüber bewusst, dass solche Kombinationen aus verschiedenen Elementen typisch für jene Form der unbewussten Verarbeitung ist, die bei jedem Menschen jede Nacht in Träumen manifest werden kann.

Thema: Seiten, Spekulation, Zeichnungen | Kommentare (2) | Autor:

f2v: Die Seerose im Glypensumpf

Freitag, 9. November 2007 4:13

Ein winziger Thumbnail zur Seite f2vDie »Pflanze« auf Seite f2v wird für eine lange Strecke von Seiten die letzte Pflanze im Manuskript sein, die an vertraute botanische Erscheinungen erinnert. Es ist eine dieser seltenen botanischen Illustrationen im Manuskript, bei der beinahe jedem Betrachter völlig klar ist, was das reale Vorbild für diese Zeichnung sein könnte.

Es handelt sich ganz zweifelsfrei um eine Wasserpflanze, die aber ohne Wasser dargestellt wird. Der lange, grüne Stängel, das große, typisch geformte Schwimmblatt, eine Wurzel, die in ihrer eigentümlichen Wuchsform wie gemacht dafür ist, im Schlamm Halt zu finden: Das alles wirkt sehr vertraut. Auch wenn die Form der Blüte nicht völlig passt, ist sie doch dem auf vielen Teichen zu findendem Vorbild so ähnlich, dass die Identifikation dieser »Pflanze« als Seerose gesichert scheint. Das ist im Gegensatz zu so vielen anderen Illustrationen im Voynich-Manuskript einmal nicht etwas, was aus einer »anderen Welt« zu stammen scheint.

Da wir annehmen dürfen, dass die ersten Wörter eines Absatzes den Namen der Pflanze beinhalten, könnten wir an dieser Seite also unser erstes Wort Voynichianisch lernen – leider ist es die im Alltag wenig hilfreiche Vokabel für eine Pflanze, die große Ähnlichkeiten zur uns vertrauten Seerose hat. Diese Vokabel lautet im schlimmsten Fall:

Ist kooiin-cheo-pchor das voynichianische Wort für Seerose?

Da die Entscheidung, ob ein Leerzeichen vorliegt, im Schriftfluss nicht immer eindeutig ist, habe ich an dieser Stelle für den Ausschnitt eine Passage gewählt, die von den meisten Transkriptoren als die drei Wörter kooiin cheo pchor »gelesen« wird, was durchaus auch eine Frage der Interpretation von Zwischenräumen ist. Doch gleich, ob hier ein Wort, zwei Wörter oder drei Wörter »gelesen« werden, das Wortmuster kooiin (von Curriers früher Studiengruppe und von Jorge Stolfi mit gutem Grund auch als kaoiin gelesen) ist im pflanzenkundlichen Teil eindeutig und damit ein guter Kandidat für den Namen der Seerose.

Die Blüte der SeeroseNun, diese Vokabelkenntnis ist nicht nur spekulativ und damit unsicher, sondern zudem auch kein so großer Fortschritt. Zumal wir uns bei dieser recht einfachen Angelegenheit bereits mitten im schwierigen Thema befinden, wie die im Manuskript erscheinende Glyphenfolge bei einer Transkription interpretiert werden soll – eine Frage, zu der es völlig verschiedene Meinungen gibt. Die Seerose führt uns also in den Glyphensumpf, in dem bislang alle Versuche untergegangen sind, die Mitteilungen eines unbekannten Schreibers aus dem Mittelalter zu lesen. Auch für umsichtige Wanderer, die nur etwas »kartographieren« wollen, ist das ein schwieriges Gelände.

Ich kann jedem frisch am Thema Interessierten zum Einstieg nur dringend empfehlen, die vorhandenen Transkriptionen zunächst zu ignorieren und sich stattdessen einen eigenen optischen Eindruck vom Manuskript zu verschaffen. Das bewahrt nachhaltig davor, den Transkriptionen blind zu vertrauen und schärft den Blick für die Ambiguität vieler Passagen dieses Manuskriptes. (Natürlich sind gute Transkriptionen unentbehrlich für eine computergestützte Analyse der Glyphenfolge. Eine recht bequeme Möglichkeit, interessierende Passagen aus gängigen Transkriptionen in den wichtigsten Formaten zu erhalten, findet sich im »Extractor« meines Voynich Information Browsers.)

Sieht man von den Glyphen nur eine Transkription, wie etwa die folgende Lesart der Seite f2v von Takeshi Takahashi, …

kooiin cheo pchor otaiin o dain chor dair shty
kcho kchy sho shol qotcho loeees qoty chor daiin 
otchy chor lshy chol chody chodain chcthy daiin
sho cholo cheor chodaiin 
kchor shy daiiin chckhoy s shey dor chol daiin 
dor chol chor chol keol chy chty daiin otchor chan 
daiin chotchey qoteeey chokeos chees chr cheaiin 
chokoishe chor cheol chol dolody

…so verliert man leider zu schnell aus dem Sinn, wie viele schwierige Entscheidungen bei der monotonen Tätigkeit des Transkribierens getroffen werden mussten – und wie häufig in solche Entscheidungen persönliche Annahmen einfließen. Es ist mir bei der Arbeit mit Transkriptionen mehrfach passiert, dass ich Muster »im Manuskript« erkannt zu haben glaubte, die nach einer Überprüfung eben so gut Muster in der Wahrnehmung des jeweilgen Transkriptors sein konnten. Stets ist jede derartige Erkenntnis an Hand einer zweiten, unabhängigen Transkription zu überprüfen, ein zusätzlicher Blick in das richtige Manuskript (in Form guter Abbildungen) ist immer empfehlenswert.

Was macht die Aufgabe der Transkription so schwierig? Die folgenden Anmerkungen schneiden nur die wichtigsten Themen an.

Interpretation von Leerzeichen

cheo p chor oder cheo pchor oder cheopchor?Das Thema habe ich ja bereits bei der Vorstellung des »Namens der Seerose« angeschnitten. Das Leerzeichen nach kooiin sieht relativ »sicher« aus, es ist ein größerer Abstand im Glyphenfluss. Aber schon die Frage, ob darauf cheo pchor oder cheo p chor oder auch cheopchor zu lesen ist, lässt sich nicht leicht entscheiden. Die p-Glyphe wirkt abgesetzt, sie hat auf beiden Seiten den gleichen Abstand. Dennoch lesen die meisten Transkriptoren hier cheo pchor.

Das liegt daran, dass eine p-Glyphe mit einer etwas über das Maß reichenden Höhe sehr häufig am Anfang eines neues Wortes steht, ihr geht in der Regel nur ein o oder qo voraus. Diese Beobachtung führt zur unbewussten Wahrnehmung dieses Musters, diese führt ihrerseits zu dieser Transkription. Da die o-Glyphe noch leicht mit dem Schriftfluss des che verbunden ist, wird sie als Bestandteil des vorhergehenden Wortes cheo gesehen.

Was hier transkribiert wurde, ist ein psychischer Prozess des Menschen, der die Transkription anfertigt und keine Eigenschaft des Manuskriptes. Wenn überhaupt, muss hier ein »unsicheres Leerzeichen« notiert werden. Solche unbewussten Mustererkennungen sind eine ganz gewöhnliche psychische Tätigkeit, wenn bewusst keine Information vorhanden ist; auf diesem psychischen Prozess beruht auch die Wahrnehmung von Sternbildern in der quasi-zufälligen Verteilung der Fixsterne am Firmament.

Schwer bestimmbare Glyphen

chor oder chos?Einige Glyphen lassen sich in Gruppen zusammenfassen, deren Vertreter sich sehr ähnlich sehen. So ist zum Beispiel die häufige s-Glyphe ein Bogen, an dem ein nach oben geschwungener Ausläufer angebracht wird, die ebenfalls sehr häufige r-Glyphe enthält den gleichen Schwung nach oben, allerdings von einem kurzen Strick als Grundfigur ausgehend.

Und manchmal scheint sich nicht einmal der Schreiber sicher gewesen zu sein, was er schreiben wollte. Das vorletzte Wort in der zweiten Zeile wird allgemein als chor transkribiert, obwohl das letzte Zeichen dieses Wortes den Eindruck macht, dass der Grundstrich einer r-Glyphe korrigiert wurde, indem einfach eine s-Glyphe darüber geschrieben wurde.

Auch hier wurde unbewusst ein Muster wahrgenommen. Die Wortendung auf -or ist wesentlich häufiger als die auf -os – und diese Wahrnehmung führte offenbar zur Entscheidung für die allgemein gewählte Lesart. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Entscheidung, die gar nicht sicher getroffen werden kann.

Solche Unbestimmtheiten sind übrigens auf der vorliegenden Seite f2v relativ dünn gesät, aber in den Seiten des astrologischen und kosmologischen Teils sehr häufig.

Das Werk vergangener Restaurationen

Viele dieser Unbestimmtheiten gehen auf einen Faktor zurück, zu dem man bei längerer Beschäftigung eine Hassliebe entwickelt. Es gab mindestens zwei Restaurationen des Manuskriptes, die uns einerseits den »Text« erhalten haben, die aber andererseits der Glyphenfolge einen großen Schaden zufügten, mit dem heute jeder Forscher leben muss. Ich bin mir sicher, dass der spätere Restaurator den Text nicht zu lesen wusste und nur die verblichenen Glyphen nachzeichnete – dabei produzierte er oft neue Glyphen, die große Rätsel aufgeben und schuf »Wörter«, die nicht in die üblichen Wortbilder passen. Zum Glück ist das Werk des späteren Restaurators oft dadurch kenntlich, dass er eine deutlich dunklere Tinte verwendete; zum Unglück hat dieser auch besonders häufig verschmierte und undeutliche Zeichen produziert.

Auch das ist eigentlich eher auf anderen Seiten auffällig, aber schon auf der an sich gut erhaltenen und klaren Seite f2v finden sich einige lehrreiche und typische Beispiele für Artefakte der Restauration.

Was wurde hier wirklich geschrieben? Jetzt liest man chokoishe...In der letzten Zeile der Seite findet sich das sehr untypisch geformte Wort chokoishe. Das Werk des Restaurators zeigt sich in der deutlich dunkleren Tinte beim Bestandteil ish, wobei die sh-Glyphe so stark verschmiert wurde, dass man nicht mehr entscheiden kann, ob der erste Bestandteil nicht vielleicht eine o-Glyphe oder – etwas unwahrscheinlicher – eine i-Glyphe gewesen sein könnte. Da o‹h und i‹h sehr selten sind, liest hier natürlich jeder sh, aber das ist eine dieser unbewussten Annahmen.

Die i-Glyphe zwischen o und sh ist in jedem Fall ungewöhnlich und löst bei meiner unbewussten Mustererkennung sofort den Verdacht aus, dass bei der Restauration eine beschädigte oder verblichene e-Glyphe falsch nachgezeichnet wurde. Auch das ist natürlich nur eine Annahme.

Was ist das für ein Text über kchor?Manchmal scheint der Restaurator recht willkürlich Dinge nachgezogen und damit sichtbar gemacht zu haben, die mit Sicherheit nicht zum ursprünglichen Manuskript gehören – das erweckt kein besonderes Vertrauen in seine Arbeit am eigentlichen Text. Beim Anblick dieser Hinzufügungen wird am ehesten klar, dass hier jemand an der Erhaltung der Glyphenfolge gearbeitet hat, der noch weniger Verständnis als ich vom Aufbau des Schriftsystems hatte und der deshalb gewiss nichts lesen konnte.

Das erste Wort des zweiten Absatzes ist klar als kchor lesbar, was auch kein besonders verdächtiges Wort ist. Aber die Tinte des Restaurators hat hier nicht nur ganz offenbar die Endung -or nachgezogen, sondern auch ein seltsames Artefakt über diesem Wort hinterlassen, dass ungefähr wie ein »fa« in lateinischen Buchstaben aussieht und keinen Bezug zum Schriftsystem des Voynich-Manuskriptes hat. Dieses Detail geht in allen Transkriptionen unter, es wird mit gutem Grund als Fremdkörper erkannt.

Aber wie viele Hinzufügungen des gleichen Restaurators haben schon Transkriptoren vor schwierige Entscheidungen gestellt? Auf den folgenden Seiten, vor allem später im astrologischen Teil, werden wir etliche Beispiele finden, in denen der ursprüngliche Text geradezu verstümmelt wurde.

Fürs erste verlassen wir den schlüpfrigen Glyphensumpf wieder. In der Hand halten wir eine Seerose, die vielleicht auf Voynichianisch kooiin heißt – mir wären ein paar Alltagsgegenstände lieber gewesen. Die gewonnene Erkenntnis ist, dass jede Transkription des Voynich-Manuskriptes ein Abbild ist, das unter großen Schwierigkeiten entstand.

Ich habe, als ich mit dem »verdammten Manuskript« anfing, zunächst Transkriptionen verwendet, um mir einen ersten Eindruck vom Text zu verschaffen. Das liegt daran, dass ich der Auffassung anhing, es handele sich um ein verschlüsseltes Manuskript, dessen Code durch Datenverarbeitung zu brechen wäre. Als Basis für eine Arbeit am Manuskript, die dem Glyphensumpf angemessen ist, erwiesen sich die Transkriptionen dabei in keiner Weise. Eine solche Arbeit muss auf wesentlich breiterer Wurzel fußen, wenn sie Halt finden soll…

Die breite Wurzel der Seerose aus dem Voynich-Manuskript

Thema: Seiten | Kommentare (0) | Autor:

Das Ziel der Seitenbeschreibungen

Freitag, 9. November 2007 4:12

In unregelmäßigen Abständen schreibe ich hier längere Texte zu einer einzelnen Seite des Vonyich-Manuskriptes.

Ich beschreibe die Seiten hier nicht, um eine Konkurrenz zu anderen Websites aufzubauen. Meine Beschreibungen versuchen auch nicht, alle Eigenheiten einer bestimmten Seite des Voynich-Manuskriptes vollständig und systematisch zu erfassen, was nach meinem Erachten für eine Einzelperson ohne spezielle Ausbildung auch gar nicht möglich ist.

Es geht mir in jeder meiner Beschreibungen um jeweils eine wichtige Anmerkung zu einer speziellen Eigenschaft des Manuskriptes. Diese Anmerkungen richten sich eher an Neulinge, und weniger an »alte Hasen«. Ein Neuling, der sich bereits aus anderer Quelle eine erste Übersicht über das Manuskript verschafft hat, soll in diesen Texten einen Eindruck von der Besonderheit des Voynich-Manuskriptes bekommen und erkennen, warum jede Arbeit an dieser Materie – auch jede über die rein kryptographische Herausforderung hinaus gehende Arbeit – von so einzigartiger Schwierigkeit und Faszination ist. Was ich dabei voraussetze, ist eine oberflächliche Vertrautheit mit dem Aufbau des Manuskriptes und mit dem Transkriptionsalphabet EVA.

Viele schwierige Themen werden in diesen Texten nur gestreift, aber doch schon so, dass die Schwierigkeiten für einen Leser auch fühlbar werden. Ich scheue dabei auch nicht die Auseinandersetzung mit esoterischen, psychologischen oder künstlerischen Themen, ohne mich auf diesen Themenkreis zu beschränken. (Ich glaube übrigens, dass das Manuskript einen esoterisch orientierten Inhalt hat.) Da sich die Präsentation aller Themen dabei zunächst an so etwas Fassbarem wie einer einzelnen Seite des Manuskriptes festmacht, wird auch abstraktem Stoff seine zunächst abschreckende Schwierigkeit genommen und ein bequemer Einstieg für eine tiefer gehende Beschäftigung gefunden.

Das gilt natürlich auch für mich. 😉 Es ist nicht immer leicht, über etwas zu schreiben, das sich seit langer Zeit jedem Verständnis entzieht.

Wenn diese Texte einen Beitrag dazu leisten, dass Spekulationen und vorschnell veröffentlichte »Ergebnisse« oder gar »Übersetzungen« krtisch bewertet werden können, freut mich das. Wenn einigen windigen Geschäftemachern das Geschäft mit der Unwissenheit gründlich versalzen wird, ist meine Freude sogar noch ein bisschen größer. Aber am meisten freut es mich immer noch, wenn sich Menschen für dieses große, ungelöste Rätsel zu interessieren beginnen und ebenfalls mit ihren verfügbaren Mitteln nach einer Lösung suchen – auch wenn ich als »ausgelernter Optimist« davon ausgehe, dass ein lesbarer Text des Manuskriptes wesentlich uninteressanter als der Weg zur Lesbarkeit sein wird.

Ich habe keine Angst, dass mir der Stoff zum Schreiben ausgeht. Wenn jede Seite einen Text hat, der auf eine einzige einmalige Eigenschaft des Voynich-Manuskriptes eingeht, werden immer noch genügend wichtige Themen übrig sein, die keine Erwähnung gefunden haben. Das »Schlimmste«, was mir passieren kann, ist, dass jemand das Buch einfach liest, bevor ich mit allen Seiten durch bin. Und das fände ich wirklich wünschenswert.

Und ansonsten gilt natürlich: kooiin cheo pchor otaiin o dain chor dair shty (f2v.P.1) 😉

Thema: Kommunikation, Seiten | Kommentare (3) | Autor:

f2r: Eine Pflanze namens kydainy

Donnerstag, 8. November 2007 0:19

Miniaturdarstellung der Seite f2rZugegeben, dieser »Pflanzenname« auf der Seite f2r ist in gewisser Weise ein Witz, aber keiner der billigen und schlechten Sorte. Es weiß zwar niemand, wie die »Pflanzen« des Voynich-Manuskriptes heißen, aber Jorge Stolfi hat vor ungefähr zehn Jahren eine ausgesprochen interessante Entdeckung an den »Texten« des »pflanzenkundlichen Teils« gemacht.

Bei seiner Entdeckung aus dem Jahr 1998 ging Jorge Stolfi von der offenbaren Tatsache aus, dass jede dieser Seiten genau eine »Pflanze« darstellt. Wenn es einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen dem »Text« und den Darstellungen einer solchen Seite gibt, denn könnte es ja durchaus möglich sein, dass der Name dieser »Pflanze« im Text auftaucht. Diese Annahme setzt allerdings voraus, dass es sich nicht um einen stark verschlüsselten Text, sondern um eine mehr oder minder direkte Notation natürlicher Sprache handelt. Aber die Annahme lässt sich leicht mit Hilfe eines Computers überprüfen, wenn man eine Transkription vorliegen hat – es reicht aus, nach »Wörtern« zu suchen, die einmalig nur auf diesen Seiten erscheinen.

Ganz so einfach ist es allerdings doch nicht. Viele Voynich-Glyphen sehen sich sehr ähnlich, das Transkribieren ist eine fehlerträchtige Tätigkeit und alle Transkriptionen sind umstritten. Deshalb wurde die Untersuchung nicht an einer rohen EVA-Transkription vorgenommen, vielmehr wurde der Text der Transkription so bearbeitet, dass ähnliche Glyphen so in identischen lateinischen Buchstaben zusammengefasst werden, dass häufige Transkriptionsfehler keine Rolle für das Ergebnis spielen. Darüber hinaus sind die Leerzeichen unsicher in der Deutung und die q-Glyphe wird wegen ihres regelmäßigen Auftretens am Wortanfang für eine »grammatikalische« Erscheinung gehalten. Die vorgenommene Transformation sieht im Einzelnen so aus:

  1. Lösche jedes q am Beginn eines Wortes
  2. Ersetze jedes t durch ein k
  3. Ersetze jedes f durch ein p
  4. Ersetze jedes y am Wortanfang durch ein o
  5. Ersetze jedes a oder o am Wortende durch ein y
  6. Ersetze jedes ee durch ein ch
  7. Ignoriere alle Leerzeichen für die Analyse

Es ist klar, dass durch diese Transformation Information aus dem »Text« zerstört wurde. Da im Manuskript viele ähnliche Wörter auftreten, wäre ein eindeutiges Ergebnis trotz dieser Transformation schon ein recht sicheres Indiz.

Jorge Stolfi kam zu einem recht eindeutigen Ergebnis (die Übel-Setzung ins Deutsche ist von mir):

Es hat sich herausgestellt, dass das erste Wort jeder Seite beinahe immer seiten-spezifisch ist. Ich betrachte diese Tatsache als ein Zeichen dafür, dass wir es als Regel betrachten können, dass das erste Wort der Seite der Name der Pflanze ist. Darüber hinaus scheinen die meisten Abweichungen von dieser Regel darin bedingt zu sein, dass ein Wort durch ein fragliches Leerzeichen umbrochen wurde. In diesen Fällen können wir gewöhnlich ein seiten-spezifisches Wort erhalten, wenn wir die ersten zwei oder drei Wörter der Seite zusammenfügen.

Kydainy - der Name der Pflanze?So auch das Wort kydainy, dieses völlig »unverdächtig« aussehende erste Wort der Seite f2r. Die beschriebene Transformation verwandelt dieses »Wort« in »kydaino«, und dieses Muster kommt im gesamten pflanzenkundlichen Teil des Voynich-Manuskriptes nicht noch einmal vor – trotz einer Transformation, die ähnlich gebaute »Wörter« aufgefunden hätte. Das ist – alles in allem – ein eher unerwartetes und verwirrendes Ergebnis einer recht einfachen Untersuchung, das die These stützt, dass es sich beim »Text« des Manuskriptes um eine direkt notierte Sprache handeln könnte.

Kydain, das erste Wort des zweiten Absatzes dieser Seite. Ist das nur eine grammatikalische Erscheinung?Interessanterweise enthält die Seite f2r zwei Absätze, und der zweite Absatz beginnt mit der sehr ähnlichen Glyphenfolge kydain – da fehlt nur die y-Endung. Auch dieses »Wort« ist im gesamten Manuskript eindeutig, so dass der Verdacht sehr nahe liegt, dass gewisse Endungen eine »grammatikalische« Erscheinung sind. Aber das ist ein völlig anderes Thema, das hier einmal ausführlich gewürdigt werden wird.

Die Blüte der Pflanze erinnert entfernt an eine KornblumeDass man einen mutmaßlichen Namen der Pflanze angeben kann, hilft leider nicht beim Lesen des Manuskriptes. Denn diese »Pflanze« ist nicht identifizierbar. Dies gilt für alle Pflanzen der Manuskriptes, so dass die von Jorge Stolfi gefundene Eigenschaft nicht beim Lesen des Textes hilfreich ist.

Die Blüte dieser Pflanze erinnert recht deutlich an eine Kornblume (centaurea cyanus), wenn auch die typische blaue Farbe fehlt. Dies führte Petersen dazu, diese Seite informell als »Cornflower« zu bezeichnen. Leider ist die Blattform völlig falsch, und die rötlichen Strukturen auf dem Stängel widersetzen sich ebenfalls der Deutung der Pflanze als Kornblume.

Die Wurzel dieser PflanzeSehr eigentümlich ist die gezeichnete Form der Wurzel.

Sie sieht – wenn man sie isoliert betrachtet – gar nicht wie eine Wurzel aus, sondern macht den Eindruck, als wenn sie ebenfalls aus Schriftzeichen bestände. Diese »Wurzelschrift« ist allerdings ebenfalls unlesbar, so dass hier unklar bleibt, ob man einem Wahrnehmungsfehler aufgesessen ist oder ob man eine wirkliche Eigenschaft der Illustration sieht. Vielleicht sollte ich es einmal mit einer Zubereitung wirklicher Kornblumen probieren, diese dient unter anderem zur Behandlung der Augen durch Waschungen…

Da viele Pflanzen nichts mit Produkten der irdischen Evolution zu tun haben, lohnt es sich, immer einen offenen Geist für andere Deutungen gewisser enigmatische Elemente in diesen Pflanzen zu haben. Wenn man dabei nur nicht so leicht in haltlose Spekulationen käme… 😉

Thema: Ergebnisse, Seiten | Kommentare (2) | Autor:

f1v: Eine Tollkirsche?

Samstag, 15. September 2007 1:24

Miniaturbild der Seite f1vDie Seite f1v ist – obwohl sie als Rückseite der einst ungeschützten Seite f1r ebenfalls sehr strapaziert wurde – relativ gut erhalten. Der »Text« ist mühelos erkennbar und in Glyphen zerlegbar, auch die gezeichnete »Pflanze« ist in ihrer Gestalt gut zu erkennen. Es handelt sich um eine Seite des »pflanzenkundlichen« Teils des Voynich-Manuskriptes. Fast schon scheint die Erhaltung der Seite etwas besser zu sein, als man es angesichts des Zustandes der Rückseite für möglich halten möchte, und in der Tat zeigen sich in den hochauflösenden Bildern Andeutungen früherer Restaurationen. An Hand des Bildmateriales kann jedoch kein sicheres Urteil über solche frühen Versuche der Restauration der Seite f1v gefällt werden.

Schon auf dieser, der zweiten Seite, fällt zum ersten Mal auf, dass mit der unlesbaren Schrift die Rätsel dieses Manuskriptes noch lange nicht erschöpft sind. Es handelt sich um eine typische »pflanzenkundliche« Seite, wie sie in ähnlicher Form auch in gewöhnlichen und gut verständlichen pflanzenkundlichen Schriften des späten Mittelalters auftauchen könnte: Eine groß gezeichnete »Pflanze« nimmt den größten Teil der Seite ein, dazu gesellt sich ein meist kurzer »Text« zur »Pflanze«, häufig sogar nur in einem einzigen Absatz. (Auf dieser Seite, f1v, sind es übrigens zwei deutlich voneinander getrennte Absätze.) Dies ist die häufigste Seitengestaltung im Manuskript, die meisten Seiten sind »pflanzenkundlich«.

Da dies die erste »pflanzenkundliche« Seite ist, die hier ausführlich als Einzelseite gewürdigt wird, seien hier auch einige eher allgemeine Worte zur Klasse dieser Seiten geschrieben. Zunächst sind die Zeichnungen der Pflanzen oft flüchtig, die Kolorierung dieser Zeichnungen kann grob und beinahe schäbig sein. Aber gerade in der schwunghaften Flüchtigkeit der Zeichnungen zeigt sich, dass der unbekannte Autor recht gut darin geübt gewesen sein muss, mit einer Gänsefeder auf Pergament zu zeichnen und auch Details zutreffend wiederzugeben. Er wird gewiss imstande gewesen sein, eine Pflanze so zu zeichnen, dass sie wenigstens für Spezialisten wiedererkennbar ist.

Wenn es einen Zusammenhang zwischen der Botschaft des »Textes« und den abgebildeten »Pfanzen« gibt, wäre es für das Verständnis des »Textes« hilfreich, wenn man die »Pflanzen« auch identifizieren könnte. Dies ist aber leider in den meisten Fällen nicht möglich, ja, es scheint bei einigen »Pflanzen« eine eher abwegige Vorstellung zu sein, dass sie Abbilder biologischer Erscheinungen der Erde sind. Daher sind die Zeichnungen im »pflanzenkundlichen« Teil keine Hilfe beim Verständnis der Botschaft, sondern selbst etwas der Deutung bedürftiges. Sie bestehen nicht aus Blättern, Stängeln, Blüten (ungewöhnlich häufig sind übrigens Korbblüten) und Wurzeln, sondern aus einem eher psychischen Material – wenn sie nicht gar eine andere, bislang kaum beachtete Form der Kryptografie sind. Sie sind in jedem Fall Kunstprodukte und damit auch eine Kunst – und zwar eine Kunstform, die auch für die beginnende Neuzeit ungewöhnlich ist, im Mittelalter jedoch als einzigartig zu betrachten wäre. Allein die »pflanzlichen« Illustrationen machen das Voynich-Manuskript zu einer Sensation, was immer auch das Urteil über den »Text« sein wird.

Blüte f1vAuf dieser Seite f1v wirkt die Pflanze auf dem ersten Blick völlig vertraut. Jeder, der schon einmal eine hübsch und durchaus lecker anzuschauende Tollkirsche (atropa belladonna) gesehen hat, meint hier die stark stilisierte Zeichnung einer solchen zu erkennen. Es sind vor allem der Blattstand, die ganzrandige, ungeteilte Form der Laubblätter und die Form der Frucht, die diesen Eindruck so unwiderstehlich machen. Auch die Verzweigung gibt die Wuchsform einer etwa 1,50 Meter hohen Pflanze vereinfacht, aber doch zutreffend wieder. Da die Frucht zu alledem noch passend mit der normalen Tintenfarbe ausgefüllt ist und deshalb im Kontext der Kolorierung schwarz erscheint, muss man geradezu an eine Schwarze Tollkirsche denken.

Frucht der TollkirscheIn gewisser Weise erfüllt diese Deutung ja auch die ersten Erwartungen an das Manuskript. In einem aufwändig verschlüsselten Buch würden ja gewiss keine Zierpflanzen behandelt, die jeder Mensch aus seiner Alltagserfahrung kennt. Es sind eher solche Pflanzen zu erwarten, die ein gesellschaftlich und religiös verpöntes oder gar verbotenes spirituelles Erleben zur Folge haben. Es handelt sich bei dem in allen Pflanzenteilen der Tollkirsche enthaltenen Hyoscyamin um ein ausgesprochen starkes Halluzinogen, das bedrückende, angstvolle, finstere und melancholische Trips auslöst. Das ist auch der tiefere Grund dafür, dass diese Pflanze nicht in ähnlicher Weise gesetzlich verboten ist wie der bei vielen Menschen so beliebte indische Hanf. Der von einer Tollkirsche ausgelöste Trip ist eine Erfahrung, die ein Mensch in aller Regel nicht wiederholen möchte. Dass dieses Mittel nicht als »Partydroge« für die heutige Zeit geeignet ist, sagt allerdings nichts über die Eignung der gleichen Droge für gewisse mystische oder spirituelle Erfahrungen in religiösen Gemeinschaften fernab des gesellschaftlichen und religiösen Mainstreams.

Da Tollkirschen hochgiftig sind und deshalb eine geringe therapeutische Breite haben, sind unbedarfte Experimente mit dieser Pflanze lebensgefährlich. Die Kenntnis um die sichere Verwendung dieser Pflanze ist also gut als ein Geheimwissen geeignet, das nur verschlüsselt notiert und nur an Eingeweihte weitergegeben wird. Einige der später auftauchenden »biologischen« und »kosmologischen« Themen erklärten sich in diesem Zusammenhang übrigens recht zwanglos als sprituelle Deutungen von Drogenerfahrungen, sie wirken auf diesem Hintergrund in ihrer Fremdartigkeit gar nicht mehr so rätselhaft.

So entsteht beim Betrachter der ersten »pflanzenkundlichen« Seite des Manuskriptes der Eindruck, dass hier gewisse Kenntnisse über Arznei- und Rauschpflanzen überliefert werden. Dieser Eindruck führt zu einer Erwartung, die den Inhalt des »Textes« betrifft. Der »Text« sollte Angaben zu Fundorten, Erntezeiten, verwendbaren Teilen, Zubereitungsformen und Anwendung der Pflanzen enthalten; diese müssten sich leicht finden lassen, da sie in gewissen, für jede Pflanze in ähnlicher Form wiederkehrenden Phrasen auftreten sollten. Diese Phrasen könnten wichtige Hinweise für die Entschlüsselung des »Textes« sein. Bei Rauschpflanzen sollte es darüber hinaus Hinweise auf die Wirkung, günstige Bedingungen für die Verwendung und mögliche Gefahren geben; bei Arzneipflanzen erwartete man Hinweise auf behandelbare Krankheiten. Auch diese Beschreibungen sollten zu einem hohen Anteil fast identischer Aussageformen führen.

Nach genau solchen Phrasen haben allerdings schon etliche Forscher Ausschau gehalten, und niemand hat sie gefunden. Jeder kann sich an Hand der Transkription seiner Wahl selbst daran versuchen und bestätigen, dass sich so etwas nicht finden lässt. So einfach macht es uns das Manuskript nicht, sonst könnten wir es längst lesen…

Nach dieser Ernüchterung stellt sich natürlich auch die Frage, wie sicher die so schnell, vielleicht vorschnell gegebene Identifikation der »Tollkirsche auf Seite f1v« wirklich ist. Der zweite Blick auf die Zeichnung zeigt denn auch vieles, was der Deutung des ersten Blicks widerspricht:

Alternierende Blattfarben im Voynich-ManuskriptZunächst eine Besonderheit des Manuskriptes, die sich noch auf vielen anderen Seiten des »pflanzenkundlichen« Teiles und ebenso im »pharmazeutischen« Teil zeigen wird. Die »Pflanzen« tragen häufig zwei verschiedene Arten von Blättern. Diese verschiedenen Blätter unterscheiden sich (meistens) nicht in ihrer Form, sondern nur in ihrer Farbe. Pflanzen mit zwei verschiedenen Arten von Blättern sind in der Natur durchaus keine Seltenheit, an jeder Linde kann man unterschiedliche Blätter sehen, die sich in Größe und Dicke klar unterscheiden; nämlich solche, die direkter Sonnenbestrahlung ausgesetzt sind und solche, die im Schatten der äußeren Blätter liegen. Deutlich unterscheidbare Blattfärbungen sind hingegen in Europa ein seltener Anblick; und dass irgendeiner Pflanze Blätter in zwei klar unterscheidbaren Farben in alterniernder Folge am Stängel wüchsen, wäre eine der irdischen Botanik gänzlich unbekannte Gestaltung. Dennoch ist das Manuskript voll mit solchen »Pflanzen«.

Der Stängel der Pflanzen ist in der Regel weißWas ebenfalls verwundert, ist die Tatsache, dass der Stängel oft nicht farbig ausgemalt ist, obwohl dem Autor (oder seinem Mitarbeiter, der die Kolorierung durchgeführt hat) eine grüne Farbe zur Verfügung stand. So entsteht der Eindruck von weißen Pflanzenstängeln, die in einem eigentümlichen Kontrast zur Farbigkeit der Blätter und Blüten stehen. An solchen, wohl absichtsvoll gezeichneten Details wird klar, dass es sich hier wohl nicht um die Darstellung irdischer Pflanzen handeln soll, die Ähnlichkeiten zu manchem vertrauten Anblick sollten also nicht überbewertet werden.

Auf diesem Hintergrund ist die Deutung der »Pflanze« als Schwarze Tollkirsche wieder sehr fraglich geworden. Der Zeichner hatte gewiss eine Tollkirsche im Sinn, als er diese Skizze anfertigte; aber gezeichnet hat er etwas sehr anderes, etwas, das wir überdem nicht gut verstehen können. Da überrascht es auch nicht mehr, dass diese »Pflanzen« keine Hilfe beim Verständnis des Textes sind; sie müssen selbst zunächst verstanden werden.

Die Wurzel ist ein großer Ballen mit verschiedenen AuswüchsenDazu passt es, dass viele Gestaltmerkmale eine nur oberflächliche Ähnlichkeit mit wirklichen Pflanzen haben und wirken, als seien sie wirr kombiniert. Dies gilt auch für die scheinbare »Schwarze Tollkirsche« auf Seite f1v. Diese »Pflanze« ist vollständig gezeichnet, auch das Wurzelsystem kann also betrachtet werden. Die Wurzel hat aber eine sehr ungewöhnliche Form. Sie hat keine Verzweigungen, sondern bildet wenige grobe und unförmige Ballen, die als behaarte Objekte gezeichnet wurden. Allein diese deutlich skizzierte, sehr regelmäßige Behaarung dieser Wurzel macht es unmöglich, die klumpige Form als anhängende Erdballen zu deuten. Nein, in der Darstellung dieser »Pflanze« sind dicke, fleischige Wurzeln beabsichtigt. Auf diese gar nicht dazu passen wollende Wurzel wurde ein oberirdisch »wachsender« Teil aufgesetzt, der große Ähnlichkeiten zu einer Tollkirsche aufweist. Auf ähnliche Weise scheinen viele »Pflanzen« durch eine Kombination von Elementen entstanden zu sein, über deren Bedeutung wir noch keine Klarheit haben.

Eines scheint nach ausgiebiger Betrachtung aller »Pflanzen« klar zu sein: Keine dieser »Pflanzen« ist jemals auf der Erde gewachsen. Es handelt sich nicht um biologische Entitäten, sondern entweder um psychologische Erscheinungen oder um eine Form der Kryptografie, die noch gar nicht ausreichend gewürdigt wurde.

Thema: Seiten | Kommentare (1) | Autor:

f1r: Die erste Seite

Freitag, 14. September 2007 2:19

Die erste Seite des Manuskriptes (f1r) verrät dem unbedarften »Leser« noch nicht, welche Überraschungen in diesem Buch noch auf ihn warten. Sie zeigt keine »außerirdischen« Pflanzen und keine unverständlichen Illustrationen in einzigartiger Formensprache, sondern nur unverständlichen Text. Sie verrät aber eine Tatsache recht deutlich: Das Manuskript hatte für längere Zeit nicht den heutigen Einband, die erste und die letzte Seite sind dementsprrechend stark »mitgenommen«. Auf der ersten Seite, die einst eine Umschlagsseite war, ist das Pergament dünn und löcherig, die Tinte beschädigt, die Glyphen sind teilweise nur noch mit Mühe zu erkennen. Nur wenige andere Seiten machen bei der Transkription so viel Mühe, diese finden sich vor allem im »astrologischen Teil«.

Auf der ersten Seite gibt es nur »Text«. Ein »Text«, der nicht lesbar ist, aber dennoch durch seine Struktur den Eindruck vermittelt, dass er eine Botschaft beinhaltet. Diesen »Text« findet man im gesamten Manuskript, und er ist nirgends verständlich.

Dennoch gibt es etwas über die erste Seite in diesem »Buch mit sieben Siegeln« zu sagen. Etwas, was über die Aufzählung der bekannten Fakten hinausgeht, etwa über die Angabe, dass es dort vier durch größeren Zwischenraum getrennte Absätze gibt, die jeweils durch ein abgesetztes, rechtsbündiges »Wort«, einen so genannten »Titel« beendet werden.

Denn die erste Seite enthält Spuren früheren Scheiterns beim Versuch, dem Manuskript seine Botschaft zu entreißen. Am rechten Rand der Seite befindet sich eine verblichene Notiz in lateinischen Buchstaben, die heute nur noch unvollständig zu lesen ist. Es ist gut möglich, dass der Autor dieser Notiz noch selbst versucht hat, die Spuren seines Scheiterns vom Pergament zu kratzen, es kann aber auch der Zahn der Zeit gewesen sein, der diese Spur früherer, erfolgloser Geistestätigkeit verwischt hat.

Es handelt sich um drei Spalten mit Buchstaben, denen jeweils Glyphen des Manuskriptes gegenüber gestellt wurden. Schon bei einem ganz frühen Versuch der Entzifferung hat offenbar ein uns unbekannter Forscher angenommen, dass hier eine relativ einfache, für das Mittelalter zu erwartende Ersetzung von Buchstaben durch andere Zeichen vorliegt, eventuell durch Nullzeichen und Abkürzungen ergänzt. Der Versuch, hier eine Zuordnung zu machen – für einen Kryptologen selbst der frühen Neuzeit eigentlich ein Kinderspiel, da nur Zeichenhäufigkeiten ermittelt werden müssen – ist aber gründlich gescheitert.

Wir wissen heute ganz genau, dass es sich um eine Sackgasse gehandelt hat. Die Botschaft des Manuskriptes ist kein einfacher Code. Dass wir von dieser Sackgasse wissen, heißt aber leider nicht, dass wir es besser könnten. Wenigstens schreibt heute niemand mehr seine Notizen zu seinen Annahmen direkt in das Manuskript hinein, sonst wäre die ursprüngliche Glyphenfolge längst von den Spuren hunderter gescheiterter Herangehensweisen überdeckt und gar nicht mehr lesbar…

Aus einem ähnlichen Ursprung mag der fast unsichtbare Text kommen, der sich in guten Reproduktionen noch an der oberen Kante erahnen lässt.

Tatsächlich hat diese Seite, die auf dem ersten Blick nur aus Text zu bestehen scheint, auch ein paar Illustrationen. Es handelt sich um zwei große Symbole, die vom üblichen Glyphenvorrat des Manuskriptes deutlich abweichen und überdem, als sollten sie noch besonders betont werden, in einer leuchtend roten Farbe ausgemalt sind. Solche Symbole finden sich an keiner anderen Stelle des Manuskriptes wieder. (Rote Farbe schon, aber auch nur einmal.) Sie wirken ähnlich wie auf den Kopf gestellte chinesische Logogramme, was aber leider auch eine Sackgasse ist – der Ursprung des Manuskriptes liegt eindeutig in Europa.

Wenn man in die hochauflösenden Bilder schaut, findet man noch eine dritte derartige Zeichnung in der rechten oberen Ecke. Diese ist zwar etwas komplizierter aufgebaut als »der Vogel« und »das dampfende Gefäß« zum Beginn des zweiten und dritten »Absatzes«, aber gibt ebenfalls keinen Aufschluss über ihre Bedeutung. Leider ist diese Zeichnung durch den Verschleiß des Pergamentes und der Tinte besonders unkenntlich geworden, so dass kein sicherer Abgleich mit chinesischen Logogrammen möglich ist.

Thema: Seiten | Kommentare (2) | Autor:

Die Adlerwurzel

Freitag, 27. Juli 2007 18:56

Sieht diese Wurzel nicht wie ein Adler aus?Dieser Bildausschnitt ist nicht etwa eine ungelenkige Zeichnung eines heraldischen Adlers, obwohl der Gedanke beim Anblick wirklich nahe liegt. Die Zeichnung macht nicht den Eindruck, dass sie den Bestandteil einer Pflanze darstellt.

Es handelt sich hier aber um der Wurzelwerk der »Pflanze« auf Seite f46v. Diese »Pflanze« macht auch in ihren anderen Gestaltmerkmalen nicht den Eindruck, als hätte ein botanisches Vorbild Modell gestanden. Die Blattform erinnert entfernt an Farne, aber im Gegensatz zu einem Farn gibt es recht auffällige Kelchblüten, die von einem langen, gekrümmten Blütenstängel abgehen.

Bei vielen »Pflanzen« im Manuskript erscheint es kaum glaubhaft, dass es sich um real wachsende Pflanzen handeln soll, selbst eine starke Stilisierung würde erkennbare Gestaltmerkmale erhalten.  Was hier gezeichnet wurde, hat kein biologisches Vorbild, sondern ein psychisches. Unter diesen Umständen erscheint es verständlich, dass bislang alle Versuche gescheitert sind, diese »Pflanzen« zu erklären oder zu identifizieren. Sie entwuchsen der Seele des Zeichners, sie stellen somit psychische und damit individuell erfahrene oder spirituelle Tatsachen dar, keine biologischen.

Die Vorstellung, dass der Text von ähnlicher Beschaffenheit sein könnte, macht natürlich erklärlich, warum bis heute jeder Versuch gescheitert ist, darin etwas zu »entziffern«.

Thema: Seiten, Zeichnungen | Kommentare (3) | Autor:

Der Papiercomputer

Montag, 8. Mai 2006 2:17

Dies sind die ersten Eindrücke von einer Untersuchung der gestern veröffentlichten Spekulationen zum »Papiercomputer« auf Seite f57v.

1. Der Punkt ist nicht in der Mitte

Der optische Eindruck vom Diagramm ist, dass sich der Punkt genau in der Mitte der konzentrischen Kreise befindet. Er ist aber um etwa einen Millimeter nach rechts und um etwa zwei Millimeter nach oben verschoben. Wenn die konzentrischen Kreise mit einem Zirkel erzeugt wurden (befindet sich ein Loch oder eine andere verdächtige Markierung in den kreisförmigen Diagrammen), sollte es eigentlich einfach sein, den exakten Mittelpunkt zu markieren. Dies ist hier aber nicht geschehen. Das macht die Hervorhebung des Punktes in meinen Augen noch ein bisschen »verdächtiger«.

2. Abbildung der Zeichen im dritten Ring

Mit den dritten Ring meine ich den dritten Ring von innen. Alle Glyphen sind in EVA wiedergegeben.

Im dritten Ring liegt ja vier Mal die Wiederholung einer fast identischen Glyphenfolge vor. Wenn ich das Lineal so anlege, dass eine Glyphe mit dem Mittelpunkt auf einer Linie liegt, so wird diese durch dieses Verfahren offenbar stets auf eine andere Glyphe im dritten Ring abgebildet. Es liegt also im dritten Ring eine Zuordnung von Glyphen auf andere Glyphen vor, wenn es sich wirklich um einen Papiercomputer handelt.

Ich mache jetzt noch keine eingehende Untersuchung, aber ein erster Plausibilitätstest ist ja schon einmal ganz gut. Sehr auffällig im dritten Ring sind die sehr seltsamen winkligen Glyphen mit dem Kreis. Hier bietet es sich in meinen Augen an, den auffälligen Kreis dieser Glyphen als zweiten Punkt für die Linie zu verwenden. Dabei entsteht im Uhrzeigersinn von 12 Uhr beginnend die Folge »frtm« — es wird also das gleiche (VMs-fremde) Zeichen auf vier verschiedene Zeichen (des normalen Glyphenbestandes im VMs) abgebildet.

Ich werde mir bei nächster Gelegenheit ein durchsichtiges Lineal besorgen, in das ich eine gerade Linie hineinritze, um zu überprüfen, wie exakt diese Abbildungen sind. (Die vielen Sackgassen und Misserfolge in bisherigen Annäherungen machen eben etwas weniger euphorisch.) Aber es ist jetzt schon erstaunlich, dass die kleinen (möglicherweise gezielten) Asymetrien sich zu so gravierenden Abweichungen hochspielen, dass dabei eine solche Abbildung auf unterschiedliche Glyphen entsteht.

Am besten, jeder macht selbst einmal einen Versuch. Die Seite ist schnell ausgedruckt, und ein Lineal sollte sich auch finden lassen. Die Einblicke, die dabei entstehen, sind an einigen Stellen sehr beeindruckend. Leider sind andere Stellen eher etwas weniger eindeutig – was wird beim VMs schon nicht widersprüchlich.

3. Die Nymphe auf 3 Uhr

Die Nymphe auf 3 Uhr hält ein nicht näher identifizierbares, rundes Objekt in der Hand. Dieses könnte ein zweiter, ausgezeichneter Punkt sein. (Frage an die Bildbearbeiter: Findet sich in diesem Kreis die Andeutung eines ähnlichen Punktes wie in der Mitte des Diagrammes?) Ich habe mal den geschätzten Mittelpunkt dieses Objektes mit dem gekennzeichneten Punkt verbunden. Die dabei entstehende Linie passt genau in die größeren, mit einer feinen Linie ausgezeichneten Lücken im zweiten und dritten Ring. Selbst die Linie wird recht gut getroffen. Die feine Linie im ersten und vierten Ring passt hingegen nicht in dieses Muster (und lässt sich vielleicht besser erklären).

4. Die diagonalen Texte in der Mitte

Was mir erst bei der Benutzung eines Lineals aufgefallen ist: Die vier diagonalen Texte in der Mitte sind exakt geradlinig ausgerichtet. Das ist umso auffälliger, als dass in den anderen Seiten offenbar niemals Linien für eine ansprechende geradlinige Ausrichtung des Textes vorgezeichnet wurden. Auch dies scheint mir ein Hinweis auf die hier erwünschte Verwendung eines Lineales zu sein. (An Bildbearbeiter: Lassen sich vorgezeichnete Linien an diesen Stellen mit einer Bildbearbeitung sichtbar machen. Sie müssen einmal dagewesen sein, und sie wären nach meiner Auffassung im Manuskript zumindest selten (oder vielleicht sogar einmalig).

Und das alles nur ein allererster Eindruck einer eher oberflächlichen Ansicht mit einer bestimmten Vermutung im Kopf. Schade, dass ich in den nächsten Tagen nur nebenbei zu diesem faszinierenden Thema kommen werde.

Thema: Seiten | Kommentare (1) | Autor:

Die Seltsamen Seiten

Sonntag, 7. Mai 2006 0:24

Warnung: Dies ist ein sehr langer Text, der einiges an Wissen über das Voynich-Manuskript voraussetzt.

0. Vorab

Es gibt einige Seiten im Manuskript, die auf besondere Weise ausgezeichnet zu sein scheinen. Das zeigt sich mir, der ich leider den »Text« nicht verstehen kann, vor allem an der graphischen Gestaltung der Seite, die deutlich vom Durchschnitt des Manuskriptes abweicht. Kann man den meisten Seiten ein grobes Thema zuordnen (Pflanzenkunde, Arznei- oder Drogenkunde, Astrologie, Kosmologie, Nymphenbadekunde [1] oder die abschließenden Textabsätze), das auch an anderen Stellen des Manuskriptes abgedeckt wird, so wirkt die Zuordnung bei diesen Seiten gezwungen; sie scheinen eher eine Klasse für sich zu bilden.

Diese Seiten sind:

  • f49v (Die Blüte aus dem Gordischen Knoten)
  • f57v (Das Schriftkarrusell oder Der Papiercomputer)
  • f58r (Die Drei Sterne)
  • f66r (Die Drei Spalten)
  • f76r (Die Nummerierung)
  • f81r (Das unsichtbare Bad)
  • f86v5 (Die Neun Rosetten oder Die Schatzkarte)
  • f86v3 (Die Vier Quellen der Welt)

Natürlich ist diese Auswahl etwas willkürlich. Sie listet Seiten auf, die sich nicht sicher einem der angenommenen Themen dieses Kompendiums zuordnen lassen. Dass die meisten dieser Seiten dem kosmologischen Komplex zugeordnet wurden, erscheint mir mit Ausnahme von f86v3 fragwürdig — ich sehe dort kein Konzept der Kosmologie. Ich hätte aber auch mit gutem Recht f86r2 in diese Sammlung aufnehmen können, obwohl dort eine Wirkung der Sonne (oder des im Bezug zur Sonne stehenden Goldes) das Thema zu sein scheint. Diese Seite unterscheidet sich dennoch deutlich von anderen kosmologischen Seiten wie f86v4. Dennoch zähle ich sie nicht zu dieser Sammlung, da sie einen klaren (vielleicht esoterischen) kosmologischen Bezug zur Sonne hat.

Meine kleine Sammlung von Seiten nenne ich die »Seltsamen Seiten« — jede dieser Seiten hat Eigenschaften, die völlig einmalig im Manuskript sind und die deshalb die Deutung schwierig machen. Bislang scheint diesen Besonderheiten nur im kryptologischen Zusammenhang Beachtung geschenkt worden zu sein, man erhoffte sich Aufschluss über den Zeichenvorrat. Diese Betrachtungen will ich nicht wiederholen, das können andere Menschen auch besser als ich. Stattdessen will ich jede dieser Seiten mit Ausnahme der Schatzkarte kurz würdigen und aufzeigen, wo sich dort Ansatzpunkte für tiefere Betrachtungen finden. Vor allem tue ich das, damit der Inhalt meines Notizbuches [2] auch anderen Interessierten von Nutzen wird.

Als Transkriptionsmethode in diesem ganzen Text wird EVA verwendet.

1. Die Blüte aus dem Gordischen Knoten f49v

1a. Besonderheiten

Man mag zunächst denken, dass es sich hier um eine normale pflanzenkundliche Seite handele. Das gesamte Layout sieht danach aus: eine große, seitenfüllend gezeichnete Pflanze ist von Text im Schriftsystem des Manuskriptes begleitet.

Wer mit dem Manuskript vertraut ist, stellt jedoch drei Besonderheiten fest, die diese Seite von allen pflanzenkundlichen Seiten unterscheidet:

  1. Der Text ist außerordentlich lang.
  2. Den insgesamt 26 Zeilen sind abgesetzte Glyphen zugeordnet, die oft den Eindruck machen, nur halb ausgeführt zu sein oder »verkrüppelte« Formen des normalen Glypenvorrates darzustellen. Es findet sich die obere Hälfte des »o« als isoliertes Zeichen; es findet sich ein »r«, das wie eine arabische Ziffer »2« geformt ist; es findet sich ein »s« mit einem deutlichen Knick, der an ein »r« erinnert; es findet sich eine einmaliges Zeichen, ein »i« mit einem Abwärtstrich wie ein »y«.
  3. Die Zeilen von 2 bis 6 in mit arabischen Ziffern von 1 bis 5 durchnummeriert, diese Ziffern sind in moderner Form geschrieben, nicht in mittelalterlicher. Es handelt sich also hochwahrscheinlich um eine spätere Hinzufügung. Da aber nicht auszuschließen ist, dass der Schreiber dieser Ziffern das Manuskript noch verstand, kann diese Hinzufügung einen wichtigen Fingerzeig geben.

1b. Fakten

  • Currier-Sprache A, Handschrift 1
  • Bestandteil des siebten Bündels
  • Rückseite der ersten Seite im Bündel

1c. Anmerkungen

Wenn die Ziffern fast sicher eine spätere Hinzufügung sind, dann kann das natürlich auch für die abgesetzten Glyphen gelten. Der Aufbau dieser abgesetzten Glyphen zeigt jedoch, dass sich ihr Schreiber stark mit dem Aufbau des Schriftsystemes und seiner Konposition aus einzelnen Stichen beschäftigt hat. Dabei ist sogar eine Kombination entstanden, die nicht zum normalen Vorrat gehört — nämlich das i mit dem »y«-Abwärtstich. Die Verbindung mit einer Nummerierung könnte bedeuten, dass ein Zusammenhang zwischen der Komposition der Glyphen aus Einzelstrichen und der Abfolge der natürlichen Zahlen notiert werden sollte; sie könnte aber auch ein Verweis auf einen systematischen Aufbau des Schriftsystemes sein.

Selbst wenn dieser Teil eine spätere Hinzufügung ist, so fällt diese Seite durch ihren zu langen Text aus dem Rahmen pflanzenkundlicher Seiten im Manuskript.

Die Handschrift der arabischen Ziffern erinnert stark an die Seitennummerierungen im Manuskript.

1d. Mögliche Fragen

  • Hat die Glyphenfolge dieser Seite (ohne die abgesetzten Zeilen) Eigenschaften, die für den pflanzenkundlichen Teil ungewöhnlich sind?

1e. Spekulationen

Das Auftreten einer solchen Seite in der Pflanzenkunde überrascht — ausgehend vom Thema der Pflanze scheint hier der Aufbau des Glyphensystemes behandelt zu werden. Steht die Pflanze in einem Zusammenhang zum Thema des Schreibens? Wird eine Komponente der Tinte, ein Farbstoff oder ein anderes Schreibmaterial daraus gewonnen? Sind die unteren Triebe am Stängel entfernt worden, um die Ausbeute dieser Substanz zu verbessern?

2. Das Schriftkarussel oder Der Papiercomputer f57v

2a. Besonderheiten

Diese Seite zeigt starke Anzeichen mehrfacher Restauration, in den hochauflösenden Bildern sieht man gelegentlich drei Schichten Tinte. Einige Glyphen wurden bei diesen Restaurationen falsch oder verstümmelt wiederhergestellt, teilweise scheint eine Näherung an den ursprünglichen Glyphenbestand aus den hochauflösenden Bildern noch möglich. Diese offenbar schon fröhen Bemühungen um den Erhalt des Inhaltes dieser Seite zeigen, dass der Inhalt für sehr wichtig gehalten wurde. Das ist umso erstaunlicher, als dass die graphische Gestaltung zunächst keinen Hinweis auf das Thema der Seite gibt; ein Bezug zu kosmologischen Themen ist nicht erkennbar. Die Einordung dieser Seite unter die Kosmologie erscheint gekünstelt.

Wenn mich jemand fragen würde, welche Seite am eingehendsten unter besonderem Licht fotografiert werden sollte, so würde ich f57v nennen. Wie gleich deutlich werden wird, halte ich diese eine Seite für die wichtigste Seite des gesamten Manuskriptes.

Trotz des relativ schlechten Zustandes der Erhaltung und der missglückten Restaurationsversuche in längst vergangener Zeit ist immer noch ein ungewöhnlich stark strukturierter Aufbau vor allem der drei inneren Ringe mit Text zu erkennen. Dieser Text »fließt« nicht wie die Beschreibungen zu den Pflanzen oder die ringförmigen Texte zu den Himmelskörpern (siehe etwa f67r), sondern die einzelnen Glyphen und kurzen Glypenfolgen sind deutlich voneinander abgegrenzt und sollen ihre Position möglichst genau einnehmen. Einige Glyphen bekommen aus diesem Grund ein besonders »breites« Erscheinungsbild, etwa die stark verzierten, schwungvollen »f«- und »p«-Glyphen. Im Gegensatz dazu wirken die kurzen »Wörter« in den Ringen an einigen Stellen sehr »gedrängt«, als wenn sie in einen bestimmten Platz passen mussten. (Im zweiten Ring vor allem »shes« und »okchod«, im inneren Ring »otchody«) Angsichts der verfügbaren Platzes und des teilweise großen Abstandes zwischen einigen dieser Glyphenfolgen wäre eine solche Maßnahme bei freiem Schreiben nicht nötig gewesen.

Darüber hinaus verwirrt diese Seite mit mehreren Symbolen, die einmalig im gesamten Manuskript sind. Einige davon gehen sicherlich auf schlechte Restauration zurück, aber das glaube ich für die folgenden Weirdos (haben wir eigentlich einen ähnlich griffigen deutschen Begriff dafür) nicht:

  • 1. Ring von innen, 12 Uhr: Ein eckiges Symbol mit einem darüber gezeichneten Punkt und einem Verbinder auf die linke Seite, das entfernt an ein eckiges »h« mit abgesetztem oberen Teil erinnert.
  • 2. Ring von innen, ca. 8 Uhr: Ein Zeichen wie ein kopfstehendes griechisches Lambda.
  • 3. Ring von innen, 12 Uhr, 3 Uhr, 6 Uhr, 9 Uhr: Eine Aufeinanderfolge zweier rechter Winkel, einer wie ein »L« stehend, der andere angefügt wie ein »^«. Über dem ersten Winkel befindet sich ein Kreis. Die Vermutung von Berj, dass es sich hierbei um den Symbolvorrat des freimaurerischen Codes handelt, kann ich nach oberflächlicher Beschäftigung unterstützen, es würde sich dann um die Zeichenfolge »LV« handeln (römische Schreibweise für 55). Das schon für den ersten Ring erwähnte eckige Symbol könnte wohl ähnlich interpretiert werden, aber das überlasse ich lieber Menschen, die sich besser mit der Freimaurerei und der dort auftretenden esoterischen Symbolik auskennen.
  • Überall in den Ringen: Die vielen »v« und »x« halte ich für eine Absicht des ursprünglichen Autors.

Eine weitere Besonderheit dieser Seite ist der 3. Ring von innen, dessen Glyphenfolge viermal fast identisch wiederholt wird. Dabei wird ein betont großer Abstand der Glyphen sicher gestellt, hier fließt nichts zusammen.

Dass in dieser Wiederholung ein »p« für ein »f« stehen kann, zeigt, dass diese Glyphen in irgendeiner Weise verwandt sein könnten — diese Vermutung wird aber auch von der optischen Erscheinung der beiden Glyphen schon genährt. Für eine genauere Aussage müsste man an Hand der hochauflösenden Bilder untersuchen, ob die Lesung der Glyphen wirklich sicher ist — aus dem mir vorliegenden Bild würde ich im Moment gar nichts schließen wollen.

Unten links auf der Seite befindet sich ein schwer deutbares Symbol, das nicht zum Schriftsystem des Manuskriptes gehört.

Diese augenfälligen Besonderheiten brachten mich zur Bezeichnung »Schriftkarrussel«, die zweite Bezeichnung »Papiercomputer« werde ich unter den Spekulationen zu dieser Seite etwas erhellen.

2b. Fakten

  • Currier-Sprache: B, Handschrift 2
  • Bestandteil des achten Bündels
  • Rückseite der ersten Seite des Bündels

2c. Anmerkungen

Dies ist die einzige kreisförmige Anordnung, in der der Autor den Mittelpunkt des Kreises deutlich hervorgehoben hat. Es handelt sich um einen klar sichtbaren Punkt, der zur Hervorhebung von einem kleinen, offenbar handgezeichneten Kreis umgeben ist. Zur zusätzlichen Hervorhebung wurde dieser Punkt von einer Rosette umgeben. Der Mittelpunkt dieser Anordnung muss also eine Bedeutung haben, wahrscheinlich steht diese Bedeutung in enger Beziehung zu der sehr streng wirkenden Anordnung der einzelnen Glyphen und kurzen Glyphenfolgen.

Außerhalb der Ringe befindet sich der Bezeichner »dairol«, als wäre dies der Name für eine derartige Anordnung. Dieses Wort ist selten im Manuskript. In der Transkription von Takeshi Takahashi wird es genau zweimal gelesen, nämlich hier und in f77v.P.21. Auf f77v lese ich allerdings ein anderes Wort, da hier der Aufwärtsbogen vom »r« in der Mitte des »i«-Striches angesetzt wird — leider wird diese Feinheit in EVA nicht unterschieden.

2d. Mögliche Fragen

  • Wer die hochauflösenden Fotos und ausreichend Rechenleistung hat, sollte ruhig einmal versuchen, so viel von der Originaltinte des ursprünglichen Schreibers wie möglich sichtbar zu machen. Ich erwarte teilweise große Abweichungen vom jetzigen Stand. (Einige Wierdos werden sich als Fehler bei der Restauration entpuppen, und einige geschwungene »f«- und »p«-Glypen werden eventuell wichtige Details zeigen, die kaum noch sichtbar sind)
  • Bei einer derartigen Bildbearbeitung sollte auch das spiralförmige oder »S«-förmige Symbol in der rechten unteren Ecke erforscht werden. Hat es die gleiche Farbe wie die verwendete Tinte des Originalautors, ist darunter eine Zeichnung sichtbar zu machen. Es wäre interessant, ob dieses Zeichen zum ursprünglichen Entwurf gehört oder eine spätere Hinzufügung ist.
  • Auch das ursprüngliche Aussehen der Nymphen wäre interessant — die Frisuren sehen aus, als seien sie nachträglich gezeichnet worden.

2e. Spekulation

Augenfällig ist die 4×17-Sequenz, in den Kommentaren zur Stolfis Interlinear-Archiv ist die Seite nach dieser Zeichenfolge benannt. Da hierzu schon so viel geschrieben wurde (wenn auch in englischer Sprache), stürze ich mich auf ein Thema, das dabei bislang völlig ignoriert wurde — auf die Zahlen.

Die Vier oder die Acht sind recht häufige Zahlen im graphischen Aufbau des Manuskriptes, und diese Zahlen haben auch eine klare psychologische (Eso-Freunde lesen bitte: esoterische) Bedeutung, da sie einen Anklang an die Himmelsrichtungen, an die Ganzheit der Erde enthalten. Eine wichtige Illustration, »die Schatzkarte« f86v5, besteht aus acht Rosetten um eine zentrale Rosette, viele dieser Rosetten zeigen wieder vierzählige Symetrie oder eine Vierzahl von Elementen. Von daher überrascht das Auftauchen einer Vierheit auf dieser Seite nicht — aber die Siebzehn überrascht sehr wohl. Nun ist Siebzehn aber gerade 4*4+1, also etwas, was über die vierfache Vierheit, ein wirklich starkes Symbol des Alls hinausgeht, ein numerisches Zeichen des Überwindens unseres Weltgefüges. (Die Überschrift hier lautet Spekulation, nicht wahr.) Dieses Symbol könnte klar machen, dass das Schriftsystem des Manuskriptes die vertrauten Bezüge der Lebenswelt durchbricht — der Inhalt wird es dann ja um so mehr tun.

Aber jetzt einmal etwas weniger wild spekuliert: Was ist auf dieser Seite dargestellt?

Es handelt sich definitiv nicht um Kosmologie, auch wenn diese Seite in diese Kategorie eingeordnet wird. Und es gibt augenfällige Unterschiede auch zu den abstraktesten kosmologischen Seiten im Manuskript (nehmen wir mal f68v1 als Beispiel, damit ein Vergleich möglich ist):

  1. Die Schrift fließt nicht im Kreis, sondern ist ungewöhnlich präzise angeordnet.
  2. Es ist kein kosmisches Objekt, also keine Sonne, kein Stern, keine Erde dargestellt.
  3. Es fehlt dieser Seite generell an graphischer Darstellung, sieht man einmal vom hervorgehobenen Mittelpunkt und den vier Nymphen ab. Diese Seite ist die abstrakteste Illustration im Manuskript, als sollte hier ein nicht zeichnerisch darstellbares Thema vermittelt werden.
  4. In den vorgezeichneten Kreis wird kein Text transportiert, sondern das Schriftsystem analytisch (also zerlegend) behandelt und mit einem Glyphenvorrat aus einem anderen Schriftsystem kombiniert. (Vielleicht mit dem Code der Freimaurer.)

Aus diesen ganzen Informationen ergibt sich für mich ein möglicher Schluss: Es handelt sich um einen Papiercomputer. Es ist eine Zeichnung, die zu dem Zweck gemacht ist, dass man mit einem Hilfsmittel (etwa einem angelegten Lineal, vielleicht aber auch einem unregelmäßig geformten Gegenstand — das Zeichen in der rechten unteren Ecke gibt doch zu denken) Informationen ablesen kann. Da der Mittelpunkt hervorgehoben ist, muss er in diesen Vorgang eine Rolle spielen. Wenn ein Lineal angelegt wird, dann wird es gewiss durch diesen Mittelpunkt hindurch angelegt. Vermutlich gehörte eine Art Lineal mit Markierungen an bestimmten Stellen zu dieser Zeichnung, und vermutlich konnte man auf diese Weise Informationen über den Aufbau des Schriftsystemes (vielleicht sogar über seine Bedeutung) gewinnen.

Und wegen dieser Spekulation, die ich für gut begründet halte, halte ich die Seite f57v für die wichtigste Seite im gesamten Manuskript – vielleicht für den einzigen Schlüssel, den wir noch haben.

3. Die Drei Sterne f58r

3a. Besonderheiten

Es handelt sich um eine fast völlig normale Textseite, bestehend aus drei Absätzen, die jeweils durch einen Stern oder eine Blüte dekoriert wurden.

Was diese Seite besonders macht, ist der erste Absatz — hier wurden die ersten drei Zeilen eingerückt, offenbar, um einer Zeichnung, einem Symbol oder einer ausgeschmückten Glyphe Platz zu machen. Dieser Entwurf wurde jedoch nicht umgesetzt, und so bleibt dort eine auffällige leere Stelle.

3b. Fakten

  • Currier-Sprache: A, Handschrift unbekannt
  • Bestandteil des achten Bündels
  • Vorderseite der zweiten Seite im Bündel

3c. Anmerkungen

Die Anzahlen der Zacken der Sterne mehren sich von oben nach unten. Der oberste ist sechszackig, der mittlere siebenzackig, der untere achtzackig. Der obere Stern hat in der Mitte einen einfachen Punkt, die beiden weiteren haben jeweils einen kleinen Kreis von der ungefähren Größe eines »o« in der Mitte.

3d. Mögliche Fragen

  • Lässt sich mit Bildbearbeitung an der freie Stelle eine Spur von Vorzeichung des dort geplanten Objektes entdecken?

3e. Spekulation

Die meisten Menschen gehen davon aus, dass beim Schreiben des Manuskriptes zunächst die Zeichnungen angefertigt wurden; der Text wurde dann in einem zweiten Arbeitsgang geschrieben. Im speziellen Fall dieser einen, wahrscheinlich nicht vollständigen Seite, lässt sich dies widerlegen. Hier wurde erst geschrieben, und beim Schreiben wurde der Raum für die Zeichnung freigelassen.

Das ist insofern interessant, als dass die Zeile nach den Ergebnissen von Currier eine eigene Informationseinheit darstellt. Wären die Textzeilen dort entstanden, wo die Grafik ihnen Raum gelassen hat, so erschiene dies als völlig unlogisch. Wird jedoch die Grafik später in den Text eingefügt, so wäre eine solche Anordnung ohne weiteres denkbar. Der Augenschein kann bei diesem Manuskript ganz schön in die Irre führen.

Die beiden Textseiten f58r und f58v liegen übrigens zusammen mit den beiden pflanzenkundlichen Seiten f65r und f65v (die andere Seite des Bifolios) an einer unpassenden Stelle im Bündel. Sie könnten falsch gebunden sein und vom Autor in einen anderen Zusammenhang beabsichtigt sein.

4. Die Drei Spalten f66r

4a. Besonderheiten

Textseite mit großer Textmenge. Interessant ist hier die dreispaltige Gestaltung. Am linken Rand befindet sich eine Spalte, in der auf ungefähr zwei Textzeilen jeweils ein kurzes Wort der voynichianischen Sprache erscheint. Neben dieser Spalte befindet sich eine zweite Spalte, die Glyphen, Ligaturen und kurze Glyphenfolgen des Schriftsystems enthält. In der dritten Spalte ist der Text enthalten.

Unten befindet sich die Zeichnung einer liegenden Nymphe mit drei unidentifizierbaren Objekten. Dazu steht ein Text in lateinischen Buchstaben in einer schwerfälligen, ungeübten Kursive. Meine Lesung ist »v ?en mv? del« — manche lesen hier so etwas wie »u(nd) den Mussteil«, was ich für eine Überinterpretation halte. Sollte jedoch der voynichianische Text »otcheo daiin chty ykeescheg« irgendeinen Bezug zum lesbaren Text haben, dann lohnt sich vielleicht der Kopfschmerz mit seiner Deutung.

4b. Fakten

  • Currier-Sprache: B, Handschrift unbekannt
  • Bestandteil des achten Bündels
  • Vorderseite der letzten Seite des Bündels

4c. Anmerkungen

Da über diese Anordnung jede Menge hervorragendes Material verfügbar ist, mache ich mir nicht die Mühe, selbst viel dazu zu schreiben. Wenn die dreispaltige Gestaltung in der Absicht des Autors lag (und keine spätere Hinzufügung ist), dann gibt diese Seite einen guten Einblick in den Zeichenvorrat des Schriftsystems.

5. Die Nummerierung f76r

5a. Besonderheiten

Eine Textseite mit großer Textmenge. Das erste Zeichen ist ein großer, in Umrisslinien gezeichneter Gallow, wohl ein »t« oder »p«. Aus der Ausführung der Zeichnung kann man auch ersehen, wie die Gallows wohl mit der Feder gezeichnet wurden. Zunächst wurde der linke senkrechte gezeichnet, dann der schwungvolle Bogen, der daraus den speziellen Gallow formte. Sowohl das Wiederansetzen der Feder als auch das Zeichnen über den anfänglichen Strich ist in der Verzierung deutlich ausgeführt. (Was man hier nicht sehen kann, aber an einigen normalen Stellen sehr gut, das ist, dass die Striche von oben nach unten geführt wurden.)

Auf der linken Seite des Textes stehen einzelne Glyphen oder Glyphenfragmente.

5b. Fakten

  • Currier-Sprache: B, Handschrift 2
  • Bestandteil des 13. Bündels
  • Vorderseite der zweiten Seite im Bündel

5c. Anmerkungen

Die am linken Rand stehenden Zeichen vermitteln den Eindruck einer Aufzählung. Wenn diese Aufzählung numerisch ist, dann können sie einen Eindruck geben, wie kleine Zahlen im Schriftsystem des Voynich-Manuskriptes notiert werden. Leider würde es sich nur um die Zahlen von 1 bis 9 handeln. Diese lauten in EVA »* d q s o l k r s«

Das erste Zeichen wird zwar von allen Transkriptoren als »s« gelesen, aber ich kann nicht nachempfinden, auf welcher Grundlage sie so lesen. Tatsächlich handelt es sich um ein völlig einmaliges, sehr eckiges Symbol. Das letzte »s« entspricht mehr der ersten Hälte eines »sh«, der Knick ist deutlich ausgeführt. Wenigstens diese beiden Zeichen sollten auffallen, wenn sie auch an anderer Stelle im Manuskript vorkommen, und damit könnten sie einen wertvollen Hinweis geben, an welchen Stellen Zahlen notiert sind. Zu unserem Pech werden offenbar die Zahlen in gewöhnlichen Glyphen ausgedrückt, die sich ohne Kontext nicht von anderen Wörtern unterscheiden lassen.

5d. Fragen

  • Tauchen die mutmaßlichen Zeichen für »1″ oder »9″ an irgendeiner Stelle im Manuskript auf?

5e. Spekulation

Wenn die Deutung »erste Hälfte von sh« für das neunte Zeichen richtig ist, dann gibt es eine Glyphe, die einem normalen »s« sehr ähnlich sieht, aber eben doch etwas anderes ist. »sh« ist dann offensichtlich eine Ligatur für eine sehr häufige Kombination mit dieser Glyphe. In bisherigen Transkriptionen wird diese Glyphe wohl immer als »s« erkannt worden sein, was unter Umständen zu großen Fehlern in den bisherigen Ergebnissen geführt hat.

6. Das unsichtbare Bad f81r

6a. Besonderheiten

Eine Seite der biologischen Sektion mit flatterhaftem rechten Rand, der den starken Eindruck erweckt, dass dort Raum für weitere Illustrationen gelassen wurde.

6b. Fakten

  • Currier-Sprache: B, Handschrift 2
  • Bestandteil des 13. Bündels
  • Siebte Seite im Bündel

6c. Anmerkungen

Ein weiteres hervorragendes Beispiel dafür, dass durchaus die Möglichkeit besteht, dass die Illustrationen erst nachträglich in den Text eingefügt wurden. Wenn in dieser Reihenfolge vorgegangen wurde, überrascht es nicht, dass die Zeile im Manuskript eine klare Struktur hat, die sie zu einer Informationseinheit macht.

6d. Fragen

  • Kann mit Bildbearbeitung ein Entwurf der beabsichtigten Zeichnung sichtbar gemacht werden?

7. Die Neun Rosetten oder Die Schatzkarte f86v5

Zu dieser einen Seite könnte man ein ganzes Buch schreiben, deshalb halte ich mich hier zurück. Aber es ist mit Sicherheit eine Seite, die unter den Seltsamen Seiten erwähnt werden muss.

8. Die Vier Quellen der Welt f86v3

8a. Besonderheiten

Vier in den Ecken des Blattes angeordnete seltsame Verrichtungen umgeben einen schwach sichtbaren Kreis in der Blattmitte. In diesen Kreis ist mit etwas unbeholfener Hand (vielleicht nachträglich) eine T-O-Karte der Erde eingezeichnet worden. Auf jeden Seitenrand befindet sich ein Absatz mit Text, darüber hinaus ist der obere Bereich über dem Kreis mit Text gefüllt.

In der Blattmitte ist eine unleserliche Kritzelei zu sehen. Diese scheint keinen Bezug zum Text zu haben, sondern eine nachträgliche Hinzufügung zu sein.

Hinter den beiden Gebilden auf der linken Seite verbergen sich Nymphen. Die untere Nymphe wirft einen undefinierbaren Gegenstand in Richtung auf die obere Nymphe. Die beiden Gebilde auf der rechten Seite sind mit Vögeln versehen, die ich für Enten halten würde. Die obere Ente fliegt auf, die untere schwimmt. Auf der Wasserfläche des unteren Gebildes stehen drei Röhrichthalme.

8b. Fakten

  • Currier-Sprache: B, Handschrift 3
  • Bestandteil des 14. Bündels
  • Nur ein Bifolio im Ausfalt-Bündel
  • Rückseite der ausfaltbaren Schatzkarte

In der unteren rechte Ecke befindet sich die Markierung des Bündels in mittelalterlichen arabischen Ziffern: »14us« — quatrodecimus, der Vierzehnte; die Endung »-us« ist ganz gewöhnlich durch eine hochgestellte »9« abgekürzt. Die Form dieser Ziffern lässt auf das 14. bis 16. Jahrhundert schließen (oder eben darauf, dass jemand den Eindruck dieser Zeit erwecken wollte).

8c. Anmerkungen

Durch die gepunkteten Verläufe aus dreien der vier Gebilde entsteht der Eindruck fließenden Wassers, die Enten und der Röhricht verstärken diesen Eindruck noch. Es scheint sich also um so etwas wie Quellen zu handeln, die auf die Erdscheibe in der Mitte zufließen. Die Quelle unten rechts fließt aber nicht, sondern ist ein ruhiges, durch den Röhricht vielleicht sogar als sumpfig angedeutetes Gewässer. Der Strom von oben links ist schwach und reicht nicht an die Welt heran, der geworfene Gegenstand der rechten unteren Nymphe könnte im Zusammenhang damit stehen.

8d. Fragen

  • Kann das Gekritzel in der Blattmitte durch Bildbearbeitung erkennbar gemacht werden? Wenn ja: In welchem Alphabet ist es geschrieben? Ist es lesbar? Vielleicht verständlich? Hat es einen möglichen Bezug zum Inhalt dieser Seite?
  • Kann durch Bildbearbeitung festgestellt werden, ob die T-O-Karte zum Entwurf des Autors gehörte. (Hat die Tinte die gleiche Farbe wie die Schrift? Handelt es sich um eine spätere Restauration und lassen sich noch Reste der alten Karte finden? War sie vielleicht sogar beschriftet?)
  • Gibt es eine esoterische, religiöse oder volkstümliche Auffassung, dass die ganze Welt aus dem Wechselspiel vierer Quellen heraus bewässert wird.

8e. Spekulation

Esoterische Deutung der Jahreszeiten? Esoterische Deutung der Himmelsrichtungen? Esoterische Deutung der Weltalter? Gibt es irgendetwas (Mythos, Sage, Legende, Heilige Schrift), was zu dieser einzigartigen Darstellung (wirklich gut und überzeugend) passt? Ich akzeptiere wegen der Fremdartigkeit des gesamten Manuskriptes auch jeden nichteuropäischen Mythos, selbst amerikanische (indianische) sind mit willkommen. Die sehr fremd wirkende Symbolik dieser Darstellung kann den Ursprung des Manuskriptes unter Umständen leichter aufklären als alle Versuche, stark stilisierte Pflanzen zu identifizieren.

In meinen Augen ist dies die einzige kosmologische Darstellung, die gedeutet werden kann und eine Zuordnung zu einer Kultur (einer Sekte, einer esoterischen Tradition) ermöglicht. Wenn wir wissen, aus welchem Kreis dieses Manuskript kommt, haben wir eine Chance, die Sprache zutreffend zu erraten – und das ist unter Umständen die halbe »Übersetzung« oder »Entzifferung«.

(Aber wahrscheinlich wird sich auch diese Darstellung als geradezu außerirdisch erweisen und keine deutliche Ähnlichkeit zu irgend etwas bekanntem haben.)

Fußnoten

[1] Das ist natürlich ein Witz, aber die genaue Bedeutung der »biologischen« Sektion ist immer noch im Dunkel. Es wird ganz offenbar gebadet, aber die Strukturen, durch welche die grünen Wasser fließen, wirken gleichermaßen organisch wie außerweltlich.

[2] Sollte in Zukunft jemand mein Notizbuch finden und für wichtig halten, so wird es fast genau so viel Verwirrung auslösen wie das Voynich-Manuskript. Es besteht aus einem fröhlichen Nebeneinander hingehauchter Skizzen, Gedichte in einer strikt phonetischen Notation, Voynich-Glyphen und stark abgekürzten Texten. Manchmal wurde das Schreiben von einem einzigen, klaren Gedanken unterbrochen, und dann findet sich eine fast leere Seite, auf der nur in Versalien das Wort »METAREPRÄSENTATION« steht. Ich weiß meistens noch nach Jahren, was ich gemeint habe — aber es ist auch ein wirklich guter Code gegen allzu neugierige Augen…

Thema: Seiten, Spekulation | Kommentare (4) | Autor: