f2v: Die Seerose im Glypensumpf
Die »Pflanze« auf Seite f2v wird für eine lange Strecke von Seiten die letzte Pflanze im Manuskript sein, die an vertraute botanische Erscheinungen erinnert. Es ist eine dieser seltenen botanischen Illustrationen im Manuskript, bei der beinahe jedem Betrachter völlig klar ist, was das reale Vorbild für diese Zeichnung sein könnte.
Es handelt sich ganz zweifelsfrei um eine Wasserpflanze, die aber ohne Wasser dargestellt wird. Der lange, grüne Stängel, das große, typisch geformte Schwimmblatt, eine Wurzel, die in ihrer eigentümlichen Wuchsform wie gemacht dafür ist, im Schlamm Halt zu finden: Das alles wirkt sehr vertraut. Auch wenn die Form der Blüte nicht völlig passt, ist sie doch dem auf vielen Teichen zu findendem Vorbild so ähnlich, dass die Identifikation dieser »Pflanze« als Seerose gesichert scheint. Das ist im Gegensatz zu so vielen anderen Illustrationen im Voynich-Manuskript einmal nicht etwas, was aus einer »anderen Welt« zu stammen scheint.
Da wir annehmen dürfen, dass die ersten Wörter eines Absatzes den Namen der Pflanze beinhalten, könnten wir an dieser Seite also unser erstes Wort Voynichianisch lernen – leider ist es die im Alltag wenig hilfreiche Vokabel für eine Pflanze, die große Ähnlichkeiten zur uns vertrauten Seerose hat. Diese Vokabel lautet im schlimmsten Fall:
Da die Entscheidung, ob ein Leerzeichen vorliegt, im Schriftfluss nicht immer eindeutig ist, habe ich an dieser Stelle für den Ausschnitt eine Passage gewählt, die von den meisten Transkriptoren als die drei Wörter kooiin cheo pchor »gelesen« wird, was durchaus auch eine Frage der Interpretation von Zwischenräumen ist. Doch gleich, ob hier ein Wort, zwei Wörter oder drei Wörter »gelesen« werden, das Wortmuster kooiin (von Curriers früher Studiengruppe und von Jorge Stolfi mit gutem Grund auch als kaoiin gelesen) ist im pflanzenkundlichen Teil eindeutig und damit ein guter Kandidat für den Namen der Seerose.
Nun, diese Vokabelkenntnis ist nicht nur spekulativ und damit unsicher, sondern zudem auch kein so großer Fortschritt. Zumal wir uns bei dieser recht einfachen Angelegenheit bereits mitten im schwierigen Thema befinden, wie die im Manuskript erscheinende Glyphenfolge bei einer Transkription interpretiert werden soll – eine Frage, zu der es völlig verschiedene Meinungen gibt. Die Seerose führt uns also in den Glyphensumpf, in dem bislang alle Versuche untergegangen sind, die Mitteilungen eines unbekannten Schreibers aus dem Mittelalter zu lesen. Auch für umsichtige Wanderer, die nur etwas »kartographieren« wollen, ist das ein schwieriges Gelände.
Ich kann jedem frisch am Thema Interessierten zum Einstieg nur dringend empfehlen, die vorhandenen Transkriptionen zunächst zu ignorieren und sich stattdessen einen eigenen optischen Eindruck vom Manuskript zu verschaffen. Das bewahrt nachhaltig davor, den Transkriptionen blind zu vertrauen und schärft den Blick für die Ambiguität vieler Passagen dieses Manuskriptes. (Natürlich sind gute Transkriptionen unentbehrlich für eine computergestützte Analyse der Glyphenfolge. Eine recht bequeme Möglichkeit, interessierende Passagen aus gängigen Transkriptionen in den wichtigsten Formaten zu erhalten, findet sich im »Extractor« meines Voynich Information Browsers.)
Sieht man von den Glyphen nur eine Transkription, wie etwa die folgende Lesart der Seite f2v von Takeshi Takahashi, …
kooiin cheo pchor otaiin o dain chor dair shty kcho kchy sho shol qotcho loeees qoty chor daiin otchy chor lshy chol chody chodain chcthy daiin sho cholo cheor chodaiin kchor shy daiiin chckhoy s shey dor chol daiin dor chol chor chol keol chy chty daiin otchor chan daiin chotchey qoteeey chokeos chees chr cheaiin chokoishe chor cheol chol dolody
…so verliert man leider zu schnell aus dem Sinn, wie viele schwierige Entscheidungen bei der monotonen Tätigkeit des Transkribierens getroffen werden mussten – und wie häufig in solche Entscheidungen persönliche Annahmen einfließen. Es ist mir bei der Arbeit mit Transkriptionen mehrfach passiert, dass ich Muster »im Manuskript« erkannt zu haben glaubte, die nach einer Überprüfung eben so gut Muster in der Wahrnehmung des jeweilgen Transkriptors sein konnten. Stets ist jede derartige Erkenntnis an Hand einer zweiten, unabhängigen Transkription zu überprüfen, ein zusätzlicher Blick in das richtige Manuskript (in Form guter Abbildungen) ist immer empfehlenswert.
Was macht die Aufgabe der Transkription so schwierig? Die folgenden Anmerkungen schneiden nur die wichtigsten Themen an.
Interpretation von Leerzeichen
Das Thema habe ich ja bereits bei der Vorstellung des »Namens der Seerose« angeschnitten. Das Leerzeichen nach kooiin sieht relativ »sicher« aus, es ist ein größerer Abstand im Glyphenfluss. Aber schon die Frage, ob darauf cheo pchor oder cheo p chor oder auch cheopchor zu lesen ist, lässt sich nicht leicht entscheiden. Die p-Glyphe wirkt abgesetzt, sie hat auf beiden Seiten den gleichen Abstand. Dennoch lesen die meisten Transkriptoren hier cheo pchor.
Das liegt daran, dass eine p-Glyphe mit einer etwas über das Maß reichenden Höhe sehr häufig am Anfang eines neues Wortes steht, ihr geht in der Regel nur ein o oder qo voraus. Diese Beobachtung führt zur unbewussten Wahrnehmung dieses Musters, diese führt ihrerseits zu dieser Transkription. Da die o-Glyphe noch leicht mit dem Schriftfluss des che verbunden ist, wird sie als Bestandteil des vorhergehenden Wortes cheo gesehen.
Was hier transkribiert wurde, ist ein psychischer Prozess des Menschen, der die Transkription anfertigt und keine Eigenschaft des Manuskriptes. Wenn überhaupt, muss hier ein »unsicheres Leerzeichen« notiert werden. Solche unbewussten Mustererkennungen sind eine ganz gewöhnliche psychische Tätigkeit, wenn bewusst keine Information vorhanden ist; auf diesem psychischen Prozess beruht auch die Wahrnehmung von Sternbildern in der quasi-zufälligen Verteilung der Fixsterne am Firmament.
Schwer bestimmbare Glyphen
Einige Glyphen lassen sich in Gruppen zusammenfassen, deren Vertreter sich sehr ähnlich sehen. So ist zum Beispiel die häufige s-Glyphe ein Bogen, an dem ein nach oben geschwungener Ausläufer angebracht wird, die ebenfalls sehr häufige r-Glyphe enthält den gleichen Schwung nach oben, allerdings von einem kurzen Strick als Grundfigur ausgehend.
Und manchmal scheint sich nicht einmal der Schreiber sicher gewesen zu sein, was er schreiben wollte. Das vorletzte Wort in der zweiten Zeile wird allgemein als chor transkribiert, obwohl das letzte Zeichen dieses Wortes den Eindruck macht, dass der Grundstrich einer r-Glyphe korrigiert wurde, indem einfach eine s-Glyphe darüber geschrieben wurde.
Auch hier wurde unbewusst ein Muster wahrgenommen. Die Wortendung auf -or ist wesentlich häufiger als die auf -os – und diese Wahrnehmung führte offenbar zur Entscheidung für die allgemein gewählte Lesart. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Entscheidung, die gar nicht sicher getroffen werden kann.
Solche Unbestimmtheiten sind übrigens auf der vorliegenden Seite f2v relativ dünn gesät, aber in den Seiten des astrologischen und kosmologischen Teils sehr häufig.
Das Werk vergangener Restaurationen
Viele dieser Unbestimmtheiten gehen auf einen Faktor zurück, zu dem man bei längerer Beschäftigung eine Hassliebe entwickelt. Es gab mindestens zwei Restaurationen des Manuskriptes, die uns einerseits den »Text« erhalten haben, die aber andererseits der Glyphenfolge einen großen Schaden zufügten, mit dem heute jeder Forscher leben muss. Ich bin mir sicher, dass der spätere Restaurator den Text nicht zu lesen wusste und nur die verblichenen Glyphen nachzeichnete – dabei produzierte er oft neue Glyphen, die große Rätsel aufgeben und schuf »Wörter«, die nicht in die üblichen Wortbilder passen. Zum Glück ist das Werk des späteren Restaurators oft dadurch kenntlich, dass er eine deutlich dunklere Tinte verwendete; zum Unglück hat dieser auch besonders häufig verschmierte und undeutliche Zeichen produziert.
Auch das ist eigentlich eher auf anderen Seiten auffällig, aber schon auf der an sich gut erhaltenen und klaren Seite f2v finden sich einige lehrreiche und typische Beispiele für Artefakte der Restauration.
In der letzten Zeile der Seite findet sich das sehr untypisch geformte Wort chokoishe. Das Werk des Restaurators zeigt sich in der deutlich dunkleren Tinte beim Bestandteil ish, wobei die sh-Glyphe so stark verschmiert wurde, dass man nicht mehr entscheiden kann, ob der erste Bestandteil nicht vielleicht eine o-Glyphe oder – etwas unwahrscheinlicher – eine i-Glyphe gewesen sein könnte. Da o‹h und i‹h sehr selten sind, liest hier natürlich jeder sh, aber das ist eine dieser unbewussten Annahmen.
Die i-Glyphe zwischen o und sh ist in jedem Fall ungewöhnlich und löst bei meiner unbewussten Mustererkennung sofort den Verdacht aus, dass bei der Restauration eine beschädigte oder verblichene e-Glyphe falsch nachgezeichnet wurde. Auch das ist natürlich nur eine Annahme.
Manchmal scheint der Restaurator recht willkürlich Dinge nachgezogen und damit sichtbar gemacht zu haben, die mit Sicherheit nicht zum ursprünglichen Manuskript gehören – das erweckt kein besonderes Vertrauen in seine Arbeit am eigentlichen Text. Beim Anblick dieser Hinzufügungen wird am ehesten klar, dass hier jemand an der Erhaltung der Glyphenfolge gearbeitet hat, der noch weniger Verständnis als ich vom Aufbau des Schriftsystems hatte und der deshalb gewiss nichts lesen konnte.
Das erste Wort des zweiten Absatzes ist klar als kchor lesbar, was auch kein besonders verdächtiges Wort ist. Aber die Tinte des Restaurators hat hier nicht nur ganz offenbar die Endung -or nachgezogen, sondern auch ein seltsames Artefakt über diesem Wort hinterlassen, dass ungefähr wie ein »fa« in lateinischen Buchstaben aussieht und keinen Bezug zum Schriftsystem des Voynich-Manuskriptes hat. Dieses Detail geht in allen Transkriptionen unter, es wird mit gutem Grund als Fremdkörper erkannt.
Aber wie viele Hinzufügungen des gleichen Restaurators haben schon Transkriptoren vor schwierige Entscheidungen gestellt? Auf den folgenden Seiten, vor allem später im astrologischen Teil, werden wir etliche Beispiele finden, in denen der ursprüngliche Text geradezu verstümmelt wurde.
Fürs erste verlassen wir den schlüpfrigen Glyphensumpf wieder. In der Hand halten wir eine Seerose, die vielleicht auf Voynichianisch kooiin heißt – mir wären ein paar Alltagsgegenstände lieber gewesen. Die gewonnene Erkenntnis ist, dass jede Transkription des Voynich-Manuskriptes ein Abbild ist, das unter großen Schwierigkeiten entstand.
Ich habe, als ich mit dem »verdammten Manuskript« anfing, zunächst Transkriptionen verwendet, um mir einen ersten Eindruck vom Text zu verschaffen. Das liegt daran, dass ich der Auffassung anhing, es handele sich um ein verschlüsseltes Manuskript, dessen Code durch Datenverarbeitung zu brechen wäre. Als Basis für eine Arbeit am Manuskript, die dem Glyphensumpf angemessen ist, erwiesen sich die Transkriptionen dabei in keiner Weise. Eine solche Arbeit muss auf wesentlich breiterer Wurzel fußen, wenn sie Halt finden soll…