f1v: Eine Tollkirsche?
Die Seite f1v ist – obwohl sie als Rückseite der einst ungeschützten Seite f1r ebenfalls sehr strapaziert wurde – relativ gut erhalten. Der »Text« ist mühelos erkennbar und in Glyphen zerlegbar, auch die gezeichnete »Pflanze« ist in ihrer Gestalt gut zu erkennen. Es handelt sich um eine Seite des »pflanzenkundlichen« Teils des Voynich-Manuskriptes. Fast schon scheint die Erhaltung der Seite etwas besser zu sein, als man es angesichts des Zustandes der Rückseite für möglich halten möchte, und in der Tat zeigen sich in den hochauflösenden Bildern Andeutungen früherer Restaurationen. An Hand des Bildmateriales kann jedoch kein sicheres Urteil über solche frühen Versuche der Restauration der Seite f1v gefällt werden.
Schon auf dieser, der zweiten Seite, fällt zum ersten Mal auf, dass mit der unlesbaren Schrift die Rätsel dieses Manuskriptes noch lange nicht erschöpft sind. Es handelt sich um eine typische »pflanzenkundliche« Seite, wie sie in ähnlicher Form auch in gewöhnlichen und gut verständlichen pflanzenkundlichen Schriften des späten Mittelalters auftauchen könnte: Eine groß gezeichnete »Pflanze« nimmt den größten Teil der Seite ein, dazu gesellt sich ein meist kurzer »Text« zur »Pflanze«, häufig sogar nur in einem einzigen Absatz. (Auf dieser Seite, f1v, sind es übrigens zwei deutlich voneinander getrennte Absätze.) Dies ist die häufigste Seitengestaltung im Manuskript, die meisten Seiten sind »pflanzenkundlich«.
Da dies die erste »pflanzenkundliche« Seite ist, die hier ausführlich als Einzelseite gewürdigt wird, seien hier auch einige eher allgemeine Worte zur Klasse dieser Seiten geschrieben. Zunächst sind die Zeichnungen der Pflanzen oft flüchtig, die Kolorierung dieser Zeichnungen kann grob und beinahe schäbig sein. Aber gerade in der schwunghaften Flüchtigkeit der Zeichnungen zeigt sich, dass der unbekannte Autor recht gut darin geübt gewesen sein muss, mit einer Gänsefeder auf Pergament zu zeichnen und auch Details zutreffend wiederzugeben. Er wird gewiss imstande gewesen sein, eine Pflanze so zu zeichnen, dass sie wenigstens für Spezialisten wiedererkennbar ist.
Wenn es einen Zusammenhang zwischen der Botschaft des »Textes« und den abgebildeten »Pfanzen« gibt, wäre es für das Verständnis des »Textes« hilfreich, wenn man die »Pflanzen« auch identifizieren könnte. Dies ist aber leider in den meisten Fällen nicht möglich, ja, es scheint bei einigen »Pflanzen« eine eher abwegige Vorstellung zu sein, dass sie Abbilder biologischer Erscheinungen der Erde sind. Daher sind die Zeichnungen im »pflanzenkundlichen« Teil keine Hilfe beim Verständnis der Botschaft, sondern selbst etwas der Deutung bedürftiges. Sie bestehen nicht aus Blättern, Stängeln, Blüten (ungewöhnlich häufig sind übrigens Korbblüten) und Wurzeln, sondern aus einem eher psychischen Material – wenn sie nicht gar eine andere, bislang kaum beachtete Form der Kryptografie sind. Sie sind in jedem Fall Kunstprodukte und damit auch eine Kunst – und zwar eine Kunstform, die auch für die beginnende Neuzeit ungewöhnlich ist, im Mittelalter jedoch als einzigartig zu betrachten wäre. Allein die »pflanzlichen« Illustrationen machen das Voynich-Manuskript zu einer Sensation, was immer auch das Urteil über den »Text« sein wird.
Auf dieser Seite f1v wirkt die Pflanze auf dem ersten Blick völlig vertraut. Jeder, der schon einmal eine hübsch und durchaus lecker anzuschauende Tollkirsche (atropa belladonna) gesehen hat, meint hier die stark stilisierte Zeichnung einer solchen zu erkennen. Es sind vor allem der Blattstand, die ganzrandige, ungeteilte Form der Laubblätter und die Form der Frucht, die diesen Eindruck so unwiderstehlich machen. Auch die Verzweigung gibt die Wuchsform einer etwa 1,50 Meter hohen Pflanze vereinfacht, aber doch zutreffend wieder. Da die Frucht zu alledem noch passend mit der normalen Tintenfarbe ausgefüllt ist und deshalb im Kontext der Kolorierung schwarz erscheint, muss man geradezu an eine Schwarze Tollkirsche denken.
In gewisser Weise erfüllt diese Deutung ja auch die ersten Erwartungen an das Manuskript. In einem aufwändig verschlüsselten Buch würden ja gewiss keine Zierpflanzen behandelt, die jeder Mensch aus seiner Alltagserfahrung kennt. Es sind eher solche Pflanzen zu erwarten, die ein gesellschaftlich und religiös verpöntes oder gar verbotenes spirituelles Erleben zur Folge haben. Es handelt sich bei dem in allen Pflanzenteilen der Tollkirsche enthaltenen Hyoscyamin um ein ausgesprochen starkes Halluzinogen, das bedrückende, angstvolle, finstere und melancholische Trips auslöst. Das ist auch der tiefere Grund dafür, dass diese Pflanze nicht in ähnlicher Weise gesetzlich verboten ist wie der bei vielen Menschen so beliebte indische Hanf. Der von einer Tollkirsche ausgelöste Trip ist eine Erfahrung, die ein Mensch in aller Regel nicht wiederholen möchte. Dass dieses Mittel nicht als »Partydroge« für die heutige Zeit geeignet ist, sagt allerdings nichts über die Eignung der gleichen Droge für gewisse mystische oder spirituelle Erfahrungen in religiösen Gemeinschaften fernab des gesellschaftlichen und religiösen Mainstreams.
Da Tollkirschen hochgiftig sind und deshalb eine geringe therapeutische Breite haben, sind unbedarfte Experimente mit dieser Pflanze lebensgefährlich. Die Kenntnis um die sichere Verwendung dieser Pflanze ist also gut als ein Geheimwissen geeignet, das nur verschlüsselt notiert und nur an Eingeweihte weitergegeben wird. Einige der später auftauchenden »biologischen« und »kosmologischen« Themen erklärten sich in diesem Zusammenhang übrigens recht zwanglos als sprituelle Deutungen von Drogenerfahrungen, sie wirken auf diesem Hintergrund in ihrer Fremdartigkeit gar nicht mehr so rätselhaft.
So entsteht beim Betrachter der ersten »pflanzenkundlichen« Seite des Manuskriptes der Eindruck, dass hier gewisse Kenntnisse über Arznei- und Rauschpflanzen überliefert werden. Dieser Eindruck führt zu einer Erwartung, die den Inhalt des »Textes« betrifft. Der »Text« sollte Angaben zu Fundorten, Erntezeiten, verwendbaren Teilen, Zubereitungsformen und Anwendung der Pflanzen enthalten; diese müssten sich leicht finden lassen, da sie in gewissen, für jede Pflanze in ähnlicher Form wiederkehrenden Phrasen auftreten sollten. Diese Phrasen könnten wichtige Hinweise für die Entschlüsselung des »Textes« sein. Bei Rauschpflanzen sollte es darüber hinaus Hinweise auf die Wirkung, günstige Bedingungen für die Verwendung und mögliche Gefahren geben; bei Arzneipflanzen erwartete man Hinweise auf behandelbare Krankheiten. Auch diese Beschreibungen sollten zu einem hohen Anteil fast identischer Aussageformen führen.
Nach genau solchen Phrasen haben allerdings schon etliche Forscher Ausschau gehalten, und niemand hat sie gefunden. Jeder kann sich an Hand der Transkription seiner Wahl selbst daran versuchen und bestätigen, dass sich so etwas nicht finden lässt. So einfach macht es uns das Manuskript nicht, sonst könnten wir es längst lesen…
Nach dieser Ernüchterung stellt sich natürlich auch die Frage, wie sicher die so schnell, vielleicht vorschnell gegebene Identifikation der »Tollkirsche auf Seite f1v« wirklich ist. Der zweite Blick auf die Zeichnung zeigt denn auch vieles, was der Deutung des ersten Blicks widerspricht:
Zunächst eine Besonderheit des Manuskriptes, die sich noch auf vielen anderen Seiten des »pflanzenkundlichen« Teiles und ebenso im »pharmazeutischen« Teil zeigen wird. Die »Pflanzen« tragen häufig zwei verschiedene Arten von Blättern. Diese verschiedenen Blätter unterscheiden sich (meistens) nicht in ihrer Form, sondern nur in ihrer Farbe. Pflanzen mit zwei verschiedenen Arten von Blättern sind in der Natur durchaus keine Seltenheit, an jeder Linde kann man unterschiedliche Blätter sehen, die sich in Größe und Dicke klar unterscheiden; nämlich solche, die direkter Sonnenbestrahlung ausgesetzt sind und solche, die im Schatten der äußeren Blätter liegen. Deutlich unterscheidbare Blattfärbungen sind hingegen in Europa ein seltener Anblick; und dass irgendeiner Pflanze Blätter in zwei klar unterscheidbaren Farben in alterniernder Folge am Stängel wüchsen, wäre eine der irdischen Botanik gänzlich unbekannte Gestaltung. Dennoch ist das Manuskript voll mit solchen »Pflanzen«.
Was ebenfalls verwundert, ist die Tatsache, dass der Stängel oft nicht farbig ausgemalt ist, obwohl dem Autor (oder seinem Mitarbeiter, der die Kolorierung durchgeführt hat) eine grüne Farbe zur Verfügung stand. So entsteht der Eindruck von weißen Pflanzenstängeln, die in einem eigentümlichen Kontrast zur Farbigkeit der Blätter und Blüten stehen. An solchen, wohl absichtsvoll gezeichneten Details wird klar, dass es sich hier wohl nicht um die Darstellung irdischer Pflanzen handeln soll, die Ähnlichkeiten zu manchem vertrauten Anblick sollten also nicht überbewertet werden.
Auf diesem Hintergrund ist die Deutung der »Pflanze« als Schwarze Tollkirsche wieder sehr fraglich geworden. Der Zeichner hatte gewiss eine Tollkirsche im Sinn, als er diese Skizze anfertigte; aber gezeichnet hat er etwas sehr anderes, etwas, das wir überdem nicht gut verstehen können. Da überrascht es auch nicht mehr, dass diese »Pflanzen« keine Hilfe beim Verständnis des Textes sind; sie müssen selbst zunächst verstanden werden.
Dazu passt es, dass viele Gestaltmerkmale eine nur oberflächliche Ähnlichkeit mit wirklichen Pflanzen haben und wirken, als seien sie wirr kombiniert. Dies gilt auch für die scheinbare »Schwarze Tollkirsche« auf Seite f1v. Diese »Pflanze« ist vollständig gezeichnet, auch das Wurzelsystem kann also betrachtet werden. Die Wurzel hat aber eine sehr ungewöhnliche Form. Sie hat keine Verzweigungen, sondern bildet wenige grobe und unförmige Ballen, die als behaarte Objekte gezeichnet wurden. Allein diese deutlich skizzierte, sehr regelmäßige Behaarung dieser Wurzel macht es unmöglich, die klumpige Form als anhängende Erdballen zu deuten. Nein, in der Darstellung dieser »Pflanze« sind dicke, fleischige Wurzeln beabsichtigt. Auf diese gar nicht dazu passen wollende Wurzel wurde ein oberirdisch »wachsender« Teil aufgesetzt, der große Ähnlichkeiten zu einer Tollkirsche aufweist. Auf ähnliche Weise scheinen viele »Pflanzen« durch eine Kombination von Elementen entstanden zu sein, über deren Bedeutung wir noch keine Klarheit haben.
Eines scheint nach ausgiebiger Betrachtung aller »Pflanzen« klar zu sein: Keine dieser »Pflanzen« ist jemals auf der Erde gewachsen. Es handelt sich nicht um biologische Entitäten, sondern entweder um psychologische Erscheinungen oder um eine Form der Kryptografie, die noch gar nicht ausreichend gewürdigt wurde.
Dienstag, 16. Oktober 2007 2:29
Ich muß zugeben, daß ich der Colorierung des VMS sehr wenig Bedeutung zumesse.
Ich halte sie für nachträglich hinzugefügt, in ziemlicher Eile und ohne Kenntniss des Inhalts.
Mein Hauptargument: die miese Qualität. Ich kenne Zweitklässler, die sorgfältiger ausmalen. Die Farben stehen in krassem Gegensatz zu den filigranen »Outlines«. F1v ist hingegen eine Ausnahme, da wirkt die Farbe noch recht wohlfein aufgetragen – schon auf F2r ist von dieser Mühe aber nichts mehr zu sehen.
Bei dieser Ansicht wird es besonders interessant, ob die »Tollkirsche«, die Frucht ganz oben, womöglich bereits schon mit der braunen Tinte vom Ur-Autor ausgemalt ist.