Wann verwirft man eine Theorie

Da ich so viele deutsche Texte zum Voynich-Manuskript veröffentlicht habe, kommt es immer wieder dazu, dass mir andere Menschen ihre Theorien und Spekulationen zum Manuskript mitteilen. Man scheint in der Anonymität des Internet zu denken, ich wäre eine geeignete »Anlaufstelle«.

Tatsächlich ist es aber so, dass ich auch ein ausgedehntes Leben neben dem Manuskript habe. Und deshalb brauche ich oft sehr viel Zeit, um auf solche Mails zu antworten – ich muss mich ja damit beschäftigen, wenn ich Stellung dazu nehme.

Das Problem

Dabei stieß ich neulich zum ersten Mal auf ein interessantes Problem im Randbereich des Manuskriptes: Wann ist es möglich und angemessen, eine Theorie über das Manuskript zu verwerfen, ohne dass man sich in aller Tiefe damit beschäftigt hat.

Es ist natürlich immer »möglich«, aber eben oft unangemessen – vor allem, wenn man das Manuskript irgendwann einmal »lesen« möchte«.

Das Problem ist das recht geringe Wissen über das Manuskript. Jeder Mensch, der eine Theorie zum Voynich-Manuskript bildet, hat vorher über mögliche Deutungen dieses Rätsels spekuliert. Wenn diese Spekulation in ein Muster fällt, das Erkenntnis verspricht, entsteht unter Hinzuziehung anderer Fakten und Annahmen eine Theorie zum Manuskript. Eine solche Theorie erklärt das Manuskript (oder einen Teil des Manuskriptes), und diese Erklärung kann richtig, teilweise richtig oder falsch sein.

Da ich nichts über den Ursprung und Inhalt des Manuskriptes weiß, ist es mir schwer, eine Theorie zu beurteilen. Ich schaue immer zuerst auf die Annahmen, die jeder in seinem Deutungsversuch machen muss, bis das Rätsel wirklich gelöst ist – aber allein an Hand der Annahmen kann ich keine Entscheidung über den Gehalt der Theorie treffen.

Ein Urteil nach dem so genannten »gesunden Menschenverstand« ist völlig ausgeschlossen. In diesem Wort werden nur verbreitete Vorurteile und die Inhalte der elementaren Schulbildung zusammengefasst. Das Voynich-Manuskript ist nun aber eine Anomalie. Dem »gesunden Menschenverstand« und übrigens auch den tiefer gehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Folge sollte es keine mittelalterliche Handschrift geben, die offenbar verschlüsselt oder in einer unbekannten Sprache verfasst ist und die jedem Leseversuch der heutigen computergestützten Kryptologie und der heutigen Sprachwissenschaft nach jahrzehntelanger Bemühung trotzen könnte. Leider hindert dies das Voynich-Manuskript nicht an seiner unbestreitbaren, gebieterischen Existenz. 😉

Wenn die Annahmen einer Theorie Bestandteile enthalten, die mir als Zumutung erscheinen, ist das also kein Grund. Egal, ob es sich um die Annahme einer Einwirkung außerirdischer Zivilisationen in der früheren Zeit handelt, oder ob bestimmte, außenseiterhaft wirkende Annahmen über die prähistorische Entstehung der menschlichen Sprache gemacht werden. So etwas wirkt auf mich »unsympathisch«, doch die Wahrheit hat sich noch nie darum gekümmert, ob sie »sympathisch« ist. Dass mir etwas nicht gefällt, ist nur eine Geschmacksfrage. Es hilft nicht beim Urteil.

Urteil an Hand der Fakten

Es gibt natürlich Theorien, die den bekannten Fakten widersprechen. Wenn jemand bestimmte Verfahren zur Verschlüsselung annimmt, so sollten diese Verfahren auch die bekannten statistischen Strukturen innerhalb der Seiten und innerhalb der Zeilen liefern, sonst ist es auszuschließen, dass die angenommenen Verfahren verwendet wurden. Wenn jemand Vergleiche zu einer toten oder lebendigen Sprache zieht, denn sollte sich in der untersuchten Sprache eine ähnlich hohe Redundanz wie in der Zeichenfolge des Manuskriptes zeigen, ansonsten ist auch diese Annahme zu verwerfen. (Die Strukturen innerhalb der Seiten und Zeilen könnten dann durchaus eine lyrische oder literarische Form sein.) Natürlich kann das Problem der Redundanz auch anders »bewältigt« werden, indem zusätzliche Annahmen über das Schriftsystem (oder den Code) gemacht werden.

Sehr viele Theorien stehen jedoch nicht sicher im Widerspruch zu den bekannten Fakten. Dieser Maßstab allein ist also nicht hinreichend.

Mein vorläufiger Maßstab

Deshalb muss ein anderer Maßstab gefunden werden, um eine Theorie zum Voynich-Manuskript vernünftig behandeln zu können.

Im Moment habe ich dieses Thema für mich noch nicht völlig abgeschlossen, mein Maßstab ist nur ein vorläufiges Teilergebnis meiner denkenden Betrachtung.

Ich lasse mich nämlich davon leiten, ob

  1. eine Theorie in irgendeiner Weise überprüfbar ist; und ob
  2. eine Theorie einen gedankliches Werkzeug liefert, das ein neues Licht auf das Manuskript zu werfen vermag, das vielleicht sogar aus dem gegenwärtigen Labyrinth heraus führen kann.

Wenn diese beiden Bedinungen einer Theorie nicht erfüllt sind, ist die Theorie nicht »verwertbar« und damit für meine Betrachtungen wertlos. (Das heißt aber nicht, dass sie nicht zum Ausgangspunkt für eine bessere Theorie werden kann.)

Überprüfbare Theorien

Die Frage, ob eine Theorie überprüfbar ist, lässt sich nicht so leicht beantworten, wie man zunächst denken mag.

Wenn eine Theorie etwa ein bestimmtes Verfahren zur Verschlüsselung annimmt, heißt das noch lange nicht, dass damit bereits eine Entschlüsselung möglich wäre. Das erklärt sich am besten aus einem Beispiel. Ich beschreibe hier jetzt in aller Kürze eine ganz einfache Methode, wie man Texte »optisch« kodieren kann und mache einige Folgerungen dazu:

  • Die Zeichen werden nicht als Zeichen betrachtet, sondern als ein Zusammenhang einzelner Federstriche. Ein großes »M« ist etwa ein vertikaler Aufwärtsstrich, ein halblanger Diagonalstrich abwärts, ein halblanger Diagonalstrich aufwärts und ein vertikaler Abwärtsstrich.
  • Diese einzelnen Elemente der Federstriche werden in Symbole übertragen, die man zu Papier bringt. Aus dem »M« könnte so ein qokain werden, wenn die Symbole »qo«, »k«, »a«, »in« als Code für die entsprechenden Elemente dienen. Ein Wort würde ein Zeichen oder eine Ligatur des lateinischen Alfabetes kodieren.
  • Die hohe Redudanz des kodierten »Textes« entsteht dabei ganz von allein. Wenn der Schreiber in seiner lateinischen Schrift reichlich Gebrauch von Abkürzungen und Ligaturen macht (wie es damals üblich war) und die genaue Form eines Zeichens von seinem Kontext abhängt, denn entsteht auch das verwirrende Nebeneinander von Regelmaß und seltenen Erscheinungen im »Text« des Manuskriptes.
  • Eine solche Kodierung lässt sich schnell und ohne weitere Hilfsmittel durchführen, so dass es durchaus zu einer »schlampigen« Kursive kommen kann. Sie kann für einen »Eingeweihten« auch gut zu lesen sein.
  • Die beiden »Sprachen« des Manuskriptes sind zwei verschiedene Schreiber mit unterschiedlicher Handschrift und verschiedenen Konventionen beim Abkürzen. Bei der »optischen Dekodierung« würden diese Unterschiede offensichtlich werden.
  • Da jedes »Wort« einen Buchstaben oder eine Ligatur repräsentiert, enthält die einzelne Seite des Manuskriptes nur wenig Text, etwa ein bis fünf Sätze. Die statistischen Strukturen innerhalb einer Zeile und einer Seite bilden sprachliche Strukturen ab.

Ist diese Theorie zum Code des Manuskriptes »überprüfbar«? Im Prinzip ja, aber es gibt so viele »Freiheitsgrade«, dass eine wirkliche Überprüfung schwierig wird. Man könnte natürlich Texte verschiedener mittelalterlicher Sprachen in dieser Weise kodieren und nachschauen, was dabei herauskommt – und zwar am besten vorhandene handgeschriebene Texte, um auch die damals üblichen Ligaturen wiedergeben zu können. Ein sehr mühsames und zeitaufwändiges Unterfangen, und kein Misserfolg mit einer bestimmten Sprache oder einer bestimmten Handschrift verwirft die Annahme, dass das Voynich-Manuskript auf diese Weise kodiert wurde.

Letztlich ist eine Theorie nur überprüfbar, wenn sie auch widerlegbar ist. Wenn ich behaupte, der »Text« des Voynich-Manuskriptes sei eine Kodierung nach dem hier dargelegten Schema, so ist dies wegen der vielen Freiheitsgrade im angegebenen Schema kaum widerlegbar. Wenn ich jedoch ein präzises Schema angeben kann, erhalte ich eine widerlegbare und damit auch eine überprüfbare Theorie.

Das neue Licht

Eine Theorie, die das Rätsel des Voynich-Manuskriptes nicht in einem neuen Zusammenhang stellt, ist wahrscheinlich nicht viel wert.

Warum ist das so? Nun, alle bisherigen Annahmen über die Natur und den Inhalt des Manuskriptes haben sich als Sackgassen erwiesen. Sie wurden dabei jahrzehntelang mit der geballten gedanklichen Kraft von Experten untersucht. Dieses deprimierende Scheitern aller bisherigen Annäherungen an die Botschaft des Manuskriptes enthält seinerseits eine Botschaft: Die Annahmen könnten falsch gewesen sein.

Von daher erscheint es mir beinahe sicher, dass eine Lösung dieses Rätsels ein völlig anderes Herangehen braucht. Das liegt natürlich auch daran, dass ich ein »Amateur« bin – der bereits geleisteten Arbeit von Spezialisten habe ich nicht mehr viel hinzuzufügen.

Aber auch solche neuen Theorien müssen meiner Meinung nach prinzipiell »überprüfbar«, also widerlegbar sein. Sonst ist kein vernünftiges Arbeiten an Hand dieser Theorien möglich, ich werde mich denn nicht weiter damit beschäftigen – aber ich lese weiterhin alles.

Und wehe, jetzt kommt mir einer mit seiner nicht widerlegbaren Theorie und liest mir das Manuskript vor… 😉

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Datum: Samstag, 2. Dezember 2006 0:49
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